Skip to main contentShow accessibility statement
Change the world with your donation

- No words -

R. Reinken
R. Reinken wrote on 14-12-2016

Wenn es mir schlecht geht, dann schreibe ich. Wenn es den Menschen um mich herum schlecht geht, dann schreibe ich. Wenn die Menschlichkeit den Bach runter geht, dann schreibe ich erst recht. 

Der unten stehende Text ist Anfang des Jahres entstanden, viele Monate bevor ich zu meiner Fundraisingtour #2wheels4syria (medizinische Versorgung syrischer Flüchtlinge) quer durch Europa aufgebrochen bin. Ich habe probiert mich frei erfunden in einen unschuldigen Zivilisten hineinzuversetzen, die Situation dürfte sich aber so oder so ähnlich tagtäglich dort abspielen. In den letzten Tagen hat sich die Auseinandersetzung in Syrien (Aleppo) zugespitzt und ihren Höhepunkt erreicht. Bitte lest euch den Text einfach durch und lasst ihn auf euch wirken. Wenn ihr euch fragt, was ihr gegen dieses Leiden machen könnt, dann überlegt bitte, ob ihr (nicht doch nochmal) spenden wollt. Dies geht unter folgendem Link: 
https://www.betterplace.org/de/fundraising-events/28466-2-wheels-4-syria 

 - Syrien - 

Dumpfes Schreien von Kindern, die nach ihren Eltern rufen. Verzweiflung in ihren Stimmen. Blutende Gliedmaßen, von denen man nicht weiß, an welchem Teil des Körpers sie sich wohl ursprünglich befanden. Der Geschmack von Eisen im Mund. Dieses anhaltende Stechen im Kopf, das einfach nicht aufhören will. Rauch und Staub in der Luft, ein verlorenes Kuscheltier zwischen einem zerbombten Auto und einem Gullideckel. Deine Ohren sind taub – oder war diese hohe, piepende Frequenz schon immer da? Du drehst dich langsam um und ein pulsierender, überwältigender Schmerz fährt durch deinen Nacken. Überall Menschen. Überall Verletzte. Soweit das Auge reicht. Du fällst auf die Knie, deine Beine rebellieren und wollen dich nicht mehr tragen. Wie viel Zeit ist vergangen? Langsam kehren die Erinnerungen zurück. Der Knall. Die Bomben. Die Schießerei. Alles fliegt durch die Luft. Kugeln, die sich in Lichtgeschwindigkeit durch die Körper von Jung und Alt bohren. 
Im selben Moment fängt die Menschheit an zu schreien. 
Schreie. Schreie. Schreie. 
Panik und Angst verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Unterschlupf suchen. Egal wo. Nur weg. Nur in Sicherheit sein. Da, eine Autohaube. Farbe: Weiß. Wie die Unschuld. Nur, dass die hier mit roten Blutstropfen bespritzt ist. Dahinter verstecken. Du spürst, wie dein Herz pumpt. 
Einatmen, ausatmen – einatmen, ausatmen. 
Deine Beine sind wie festgefroren. Dabei wird dir abwechselnd warm und kalt. Die syrische Mittagshitze knallt gnadenlos von einem restlos blauen Himmel und beleuchtet somit fast schadenfroh jeden Zentimeter des Marktplatzes, der eben noch durch buntes, geschäftliches Treiben geprägt war. Seltsam, sieht aus wie die Kriegskulisse eines schlechten Hollywoodfilmes. Was ist hier passiert? Jemand packt dich am Arm und schreit dich an. Eine Frau. Sie fuchtelt mit ihren Armen und sagt etwas, aber du kannst sie nicht verstehen. Ihre Laute sind dir plötzlich ganz fremd und hören sich seltsam verzerrt an. Aus deinem eigenen Mund kommen keine Wörter. Nur Atem. 
Einatmen, ausatmen – einatmen, ausatmen. 
Die Frau schüttelt dich und guckt dich eindringlich an. Sie hat nur noch ein Auge. Da, wo ihr zweites sein sollte, ist ein Loch. Alles weggefetzt. Du siehst dem Tod ins Auge. Immer noch bewegt die Frau ihren Mund – aber deine Ohren sind immer noch taub. Plötzlich klappt ihr Körper in sich zusammen und das eine Auge dreht sich auf eine unnatürliche Art und Weise nach innen. Sie bewegt sich nicht mehr. Du fängst an zu schwitzen. Aus jeder Pore deines Körpers sickert Schweiß. Angstschweiß. Jemand in der Nähe röchelt und atmet zittrig und flach. Als wolle er seinen Atem sparen. Plötzlich merkst du, dass DU dieser Jemand bist. Weil du der einzige Mensch bist, der sich hier noch bewegt. Um dich herum liegen leblose Körper. Sie sehen aus, als hätte jemand die Zeit angehalten. Ihre Augen sind offen und vom Schreck geweitet. Die Hüllen der eben noch lachenden, redenden Menschen starren dich an. Überhaupt hast du das Gefühl, dass du der letzte lebende Mensch auf dieser Welt bist. 
Einatmen, ausatmen – einatmen, ausatmen.
Du willst schreien, aber aus deinem Mund kommt kein Geräusch.
Du willst Hilfe holen, aber dein Körper rührt sich nicht vom Fleck.
Du willst rennen. 
Rennen, bis du vergisst, was hier passiert. 
Rennen, bis du vergisst, dass du bei einem Bombenanschlag anwesend warst. 
Rennen, bis du vergisst, dass deine Heimat sich in ein Schlachtfeld verwandelt hat, das immer mehr Opfer fordert. 
Rennen, bis du vergisst, welcher Tag ist. 
Rennen, zurück in die Vergangenheit, in der Syrien ein sicheres und friedliches Land war. 
Rennen, nach vorne in die Zukunft, bis du auf dem Kontinent ankommst, der sicher sein soll? 
Europa. Aber welche Zukunft?
Rennen, bis du endlich in Sicherheit bist.
„Renn!“, schreit jede Faser deines Körpers.
Renn. Renn. Renn.
Aber deine Beine sträuben sich. Du hast das Gefühl, du bist kein ganzer Mensch mehr, sondern eher eine Kombination aus unfunktionalen Einzelteilen.
Das ist das Ende; oder zumindest der Anfang vom Ende. 
Einatmen, ausatmen – einatmen, ausatmen.
Du denkst, dass dein Leben jetzt an dir vorbeiziehen wird und du die schönen Momente nochmal siehst und dann in ein dunkles einlullendes Nichts eintauchst, aus dem du nicht mehr erwachen wirst. 
Nichts passiert. 
Da ist nur Ungläubigkeit. Da sind Fragen, auf die es keine sinnvollen Antworten gibt. 
Da ist eine Leere, die dich bis ans Ende deines Lebens begleiten wird.
Leere. Leere. Leere.
Einatmen, ausatmen – einatmen, ausatmen.