Unsichtbar unterwegs auf der Balkanroute
Als wir uns nahe der serbisch-kroatischen Grenze durch das dichte Gestrüpp kämpften, fand ich vor meinen Füßen im Gras einen dunkelblauen Reisepass. Ich hob ihn auf: Khalid, 23, aus Syrien. Später fand ich noch einen weiteren Pass. Der Name ließ vermuten: sein jüngerer Bruder. Als mein Blick weiter schweifte, sah ich eine Gaskartusche mit türkischer Aufschrift, eine zerdrückte Konservendose und eine angekokelte Decke. Von den beiden fehlte jede Spur. Es schien, als wären sie überstürzt aufgebrochen.
„Vor ein paar Tagen waren hier noch Leute“, sagte mein Begleiter von unserer serbischen Partnerorganisation. „Aber sie scheinen gegangen zu sein. Vielleicht über die Grenze, vielleicht tiefer in den Wald, vielleicht sind sie aber auch in einer privaten Unterkunft.“ Wir fuhren weiter zu anderen Orten, sogenannten Squats, an denen sich Menschen auf der Flucht sonst oft verstecken. Doch es war still. Viel stiller als bei meinen letzten Besuchen. Damals wohnten Dutzende Menschen in verlassenen Fabrikhallen, in verfallenen Häusern oder unter Planen im Wald. Auf ihrem Weg in die EU waren sie an diesen Orten gestrandet und versuchten wieder und wieder die Grenze zu überqueren. Jetzt sahen wir von ihnen oft nur noch eine Spur im Schlamm. Doch wir wissen: Die Menschen sind da. Sie harren an Orten aus, die kaum jemand findet. Polizeirazzien, gewaltsame Räumungen und die Präsenz von Frontex in Serbien zwingen sie, sich tiefer in die Wälder oder in Keller und Verschläge zurückzuziehen - Orte, die oft von fragwürdigen Personen kontrolliert werden und wo kein Hilfe mehr hinkommt. 
„Wenn die Flüchtenden in privaten Unterkünften verschwinden, können wir sie nicht ausfindig machen. Wir hören zunehmend Geschichten von Missbrauch, Zwangsprostitution und moderner Sklaverei.“, erzählte mir ein Mitarbeiter unserer Partnerorganisation.
Die Helfer:innen versuchen auf verschiedenen Wegen die Menschen zu finden. Sie fahren regelmäßig in die Grenzgebiete und haben die wichtigsten Hilfsgüter wie Zelte, Schlafsäcke, Jacken und Essen dabei. Als wir gerade weiterfahren wollen, klingelt das Telefon: Ein Notruf. Eine Gruppe von Flüchtenden ist seit drei Tagen im Wald – ohne Wasser, ohne Nahrung. Wir verabreden einen Treffpunkt, lassen das Auto zurück, und machen uns mit den Hilfsgütern zu Fuß auf den Weg. „Decken und Schlafsäcke haben wir nie genug“, erklärt mein Begleiter. „Deshalb teilen wir sie nicht aus, bis wir wissen, wer sie am dringendsten braucht. Minderjährige haben immer Vorrang.“
Am Abend rief ich Kai, unseren Logistiker in Brandenburg, an: „Hier in Serbien werden dringend Schlafsäcke, Zelte und Schuhe gebraucht“, sagte ich ihm. „Wir müssen einen Hilfstransport schicken.“ Gesagt, getan. Wir schicken in der kommenden Woche einen Transport nach Serbien.
Die sogenannte Balkanroute ist bereits seit Jahrhunderten eine Handels- und Reiseroute. Heute versuchen Menschen über diese Route, in der EU Sicherheit zu finden. Doch die Grenzen der EU werden in Bulgarien, Ungarn und Kroatien brutal verteidigt mit Pushbacks, Misshandlungen und Einschüchterung. 
Unsere Partner:innen in Serbien und Bosnien kämpfen mit knappen Mitteln, aber mit Entschlossenheit. Sie finden die, die niemand sieht. Wir unterstützen sie dabei und versenden regelmäßig Transporte mit Hilfsgütern nach Serbien und Bosnien.