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11. Auszug aus dem Kältebustagebuch 2009/2010

(Gelöschtes Mitglied)
(Gelöschtes Mitglied) schrieb am 02.03.2010

20. Februar 2010

Bevor wir uns auf unsere Tour durch das nächtliche Berlin aufmachten, befragten wir die Gäste, die sich bereits in der Notübernachtung befanden und auch diejenigen, die noch vor der Tür warteten, ob jemand mit in eine alternative Notübernachtung mitkommen wolle. Es fand sich nur ein Gast, der uns in die neue Notübernachtung "Warmer Otto" begleiten wollte und als wir uns gerade auf den Weg machen wollten, machte uns ein Punker-Pärchen auf ihren Freund aufmerksam, der schlafend in seinem Rollstuhl neben einem Gebüsch saß. Dieser Gast, der kein Deutsch spricht, hatte in der Notübernachtung Hausverbot (was auch einen nachvollziehbaren Grund hat). Daher rief Katja im „Warmen Otto“ an und erfuhr, dass dort zwei Plätze frei seien und es keine Probleme gäbe, unsere beiden Gäste dort für die Nacht unterzubringen.

Wir erklärten dem verschlafenen Rollstuhlfahrer, dass wir eine Übernachtungsmöglichkeit für ihn hätten und er signalisierte uns sein Einverständnis durch ein kurzes, grummelndes OK. Der Gast war beidseitig beinamputiert, inkontinent und bis unter beide Achseln eingenässt. Da ich aber glücklicherweise über pflegerische Berufserfahrung verfüge, gestaltet sich das Hinein- und Herausheben unseres mittlerweile wieder eingeschlafenen Gastes aus seinem Rollstuhl, in den Kältebus, und wieder zurück als technisch reibungslos und war "nur" mit einem gewissen "Kraftakt" verbunden.

Nachdem Katja und ich beide Gäste im "Warmen Otto" untergebracht hatten, machten wir uns auf unsere nächtliche Tour durch die nicht mehr ganz so kalte, nächtliche Hauptstadt – wir hatten +2°C, also relativ annehmbar, wenn man an die Temperaturen der letzten Wochen denkt.

Unsere Nacht war, was Anrufe auf dem Kältebus-Telefon anbelangt, relativ ruhig und wir konnten die Orte anfahren, von denen wir wussten, dass sich dort wohnungslose Menschen aufhielten. Wir hatten in dieser Nacht Gelegenheit gute Gespräche zu führen, viele Kontakte zu pflegen und Menschen das Gefühl zu geben, dass sie jemand sucht und findet, dass sich jemand mit Ihnen unterhalten möchte und dass Ihnen jemand zuhört. Wir trafen in dieser Nacht am Bahnhof Zoo, am Ostbahnhof, am Alexanderplatz und am Kottbusser Tor (Kreuzberg) wohnungslose Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, teilten an frierende Menschen Mützen, Handschuhe und heißen Tee aus, versorgten Punker mit Schokolade und lernten "Magnus" und "Brutus" sowie viele weitere große und kleine Hunde der wohnungslosen Menschen kennen.

Wir besuchten Albert und Maria, ein wohnungsloses Pärchen, das seit 18 Monaten unter freiem Himmel im Schillerpark im Wedding lebt, schenkten heißen Tee aus und führten Gespräche, die hoffentlich irgendwann dazu führen, dass sich die beiden auf professionelle Hilfe einzulassen trauen. Und wir fuhren nach einem Anruf der Bahnhofsmission weitere hilflose Männer zur Notübernachtung in den „Warmen Otto“, sowie einen uns bekannten jungen Mann in die Notübernachtung in der Lehrter Strasse.

Wir sprachen mit einem verbal aggressiven jungen Mann, der von seiner Freundin verlassen worden war, und konnten ihn beruhigen, um dann ein lockeres Gespräch zu führen.

Mitten in der Nacht rief uns dann eine ältere Dame auf dem Kältebus-Telefon an und erklärte, dass sie in Braunschweig lebe und demnächst obdachlos sein würde. Da sie den Kältebus im Fernsehen gesehen hätte, hielte sie es für eine gute Idee, wenn sie nun nach Berlin umziehen würde. Katja, im Berufsleben eine junge Rechtsanwältin, erklärte der Anruferin mit bewundernswerter Geduld, wie sie Hilfe auch ohne Umzug nach Berlin erhalten könne!

Wir führten in dieser Nacht auch entspannte und freundliche Gespräche mit Bundespolizisten, Security-Mitarbeitern und den Mitarbeitern der Bundesbahn – eine rundum kommunikative Nacht.

Aber ein Mann mittleren Alters am Ostbahnhof toppte alles. Er erkannte unseren Kältebus sprach uns mit den Worten an: "Ich bin dankbar, dass es Euch gibt!"

Katja und ich schauten uns an und waren zuerst etwas verdutzt, kannten wir den Passanten doch gar nicht. Erst im weiteren Verlauf verstanden wir, als er erzählte: "Ich war auch mal ganz unten, obdachlos und alleine. Ihr, also der Kältebus, habt mir geholfen. Ihr habt mir heißen Tee gegeben und habt mit mir gesprochen. Ich bekam wieder Perspektive und heute geht es mir gut. Ich habe eine Wohnung und es läuft. Wenn ich dann wieder so plötzlich den Kältebus sehe, bekomme ich so ein Tränchen ins Auge – dann kommen die Erinnerungen hoch. Vielen Dank, dass es Euch gibt!", sprachs, wischte sich die Augenwinkel und verschwand in der Nacht.

Mit dieser anrührenden Begegnung beendete ich meine erst Nacht als Fahrer ohne Artur.

Und Artur – vielen Dank für Deine gute Einarbeitung!

- Dirk, ehrenamtlicher Kältebus-Fahrer (in dieser Nacht zum ersten Mal in der Hauptverantwortung)