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INTERPLAST-Sektion München in Myanmar - Juni 2025

Dr. med. Heinrich Schoeneich
Dr. med. Heinrich Schoeneich schrieb am 18.07.2025




Myanmar, Juni 2025 - Weg der Selbstzerstörung

Team: Dr. Heinrich Schoeneich (Plastischer Chirurg | Sektionsleiter), Dr. Andreas Anke (Anästhesist)             

Der 80. Geburtstag Daw Aung San Suu Kyi’s, den die Friedensnobelpreisträgerin noch immer in vollständiger Isolationshaft verbrachte, löste im Juni 2025 eine weltweite Solidaritätskampagne aus: Über 103.000 Videobotschaften wurden gesammelt, weit mehr als erwartet – die Menschen haben die ehemalige Regierungschefin Myanmars nicht vergessen. Landesweite Akte des Widerstands, darunter Blumenstreiks und Kerzenmärsche, feierten und bekräftigten ihren Status als Ikone der Einheit und des zivilen Ungehorsams. Angesichts der massiven Überwachung und Repressionen durch das Militärregime stehen diese Formen des Protests für mehr als nur eine symbolische Geste: Sie sind mutige Forderung nach Freiheit, Gerechtigkeit und demokratischer Erneuerung.             

Parallel dazu verschärft sich weiterhin der Bürgerkrieg. Bewaffnete ethnische Organisationen und Volksverteidigungskräfte kontrollieren zunehmend größere Teile des Landes. Die Militärjunta wiederum intensiviert Luftangriffe, Zwangsrekrutierungen und blockiert humanitäre Hilfe. Über 2,8 Millionen Menschen sind auf der Flucht, während elementare Bereiche wie Bildung und Gesundheitsversorgung in vielen Regionen brach liegen. Eine von der Militärregierung bis zum 30. Juni ausgerufene Waffenruhe erwies sich als reine Fassade: Während Diplomaten über Frieden sprachen, regnete es Bomben auf Dörfer. Die Gewalt dauert an und das Leid der Zivilbevölkerung nimmt täglich zu.             

Als ob Krieg und Repression nicht genug wären, wurde das ohnehin geschwächte Land am 28. März 2025 von einem verheerenden Erdbeben der Stärke 7,7 erschüttert, welches die prekäre Lage, insbesondere im Epizentrum um Sagaing und Mandalay, drastisch verschärfte. Laut Militärjunta kamen dabei mehr als 2.700 Menschen ums Leben, über 3.900 wurden verletzt, hunderte Gebäude zerstört. Jahreszeitbedingte Monsunfluten erschweren seither die Wiederaufbaubemühungen und der Zugang für humanitäre Hilfe ist stark eingeschränkt. Die Warnung der Vereinten Nationen, Myanmar befinde sich auf einem "Weg der Selbstzerstörung", ist keine Utopie, sondern Realität.             

Seit dem Militärputsch am 1. Februar 2021 ist das Land im Ausnahmezustand. Die zivile Regierung wurde wegen angeblicher Wahlunregelmäßigkeiten abgesetzt, die Macht am 2. Februar von dem vom Militär kontrollierten Staatsverwaltungsrat (SAC) übernommen. Es folgten massive, zunächst friedliche Proteste und ein landesweiter Generalstreik, getragen von Menschen aller gesellschaftlichen Gruppen. Auch zahlreiche ÄrztInnen, LehrerInnen, ArbeiterInnen und Beamte schlossen sich an. Viele Kliniken wurden geschlossen, der medizinische Sektor brach zusammen, Fachpersonal verlor durch Teilnahme am Streik Arbeitsmöglichkeit, Lebensgrundlage und Pensionsanspüche.             

Doch selbst in dieser dunklen Stunde war es uns möglich, die Verbindung zu unseren burmesischen KollegInnen, zu unseren Freunden, zu den Menschen, mit denen wir so viele Jahre zusammengearbeitet hatten, aufrecht zu erhalten. Diese Menschen, die ausgebildet wurden, um zu heilen, kämpften nicht nur gegen den Krieg, sondern auch gegen das Vergessen. Sie kämpften auch für das, was wir ihnen gegeben hatten – Wissen, Hoffnung, die Möglichkeit zu helfen. Unsere Münchner INTERPLAST-Sektion war fast drei Jahrzehnte lang im ganzen Land mit unseren burmesischen Partnern aktiv. Nachdem wir, nach Pandemie und Putsch, keine offizielle Arbeitserlaubnis mehr erhalten hatten, arbeiteten wir zuletzt in einem Flüchtlingshospital der Karen an der thailändischen Grenze. Dort richteten wir einen kleinen, gut ausgestatteten OP ein. Die technische Ausrüstung kam über Bangkok aus China – funktional und den Anforderungen entsprechend.

Dennoch war es schmerzhaft, meine burmesischen KollegInnen, Freunde und unsere gemeinsame Arbeit im Land nicht mehr persönlich erleben zu dürfen. Wir hatten mehr als 50 Einsätze in allen Provinzen Myanmars durchgeführt, stets in gemischten Teams mit burmesischen ChirurgInnen und Pflegekräften. Unterstützt wurden wir dabei von anderen INTERPLAST-Sektionen wie Duisburg, Münster/Stuttgart und Südbayern. Wir wuchsen zu einer echten „Burma-Familie“ zusammen. Mehrere Kolleginnen und Kollegen erhielten Kurzstipendien in München, Regensburg und Hamburg, um moderne Operationstechniken kennenzulernen. Viele von ihnen wurden später Chefärzte – wie Prof. Myitzu Win, die heute die plastisch-chirurgische Abteilung im General Hospital leitet.

Nach dem Erdbeben im März 2025 versuchte ich alles, um zu helfen. 21.000 Euro, die ich für dringend benötigtes OP-Material organisiert hatte, waren nur ein Tropfen auf den heißen Stein, doch zu diesem Zeitpunkt die einzige Möglichkeit der Unterstützung. Die Militärregierung versuchte immer wieder, uns zu blockieren. Ein Visum zu erhalten war fast unmöglich – doch schließlich konnte ich es zwei Stunden vor dem Abflug am 11. Juni bekommen, durch einen letzten verzweifelten Kontakt. Mein Kollege, Andreas Anke, und ich reisten nach Yangon, wo uns die Realität dieses Krieges entgegenschlug.

Die Stadt wirkte auf den ersten Blick vertraut: Monsunregen, gepflegte Grünanlagen, dichter Verkehr, aber nachts bewegten sich deutlich weniger Menschen auf den Straßen - aufgrund der gestiegenen Kriminalität haben sie Angst, ihre Häuser zu verlassen. Es war nicht mehr „meine Stadt“. Die Stadt, die einst mein zweites Zuhause war, ist eine andere geworden, ihre Ausstrahlung hat sich gewandelt. Nur die Shwedagon-Pagode hat nichts von ihrer Aura verloren: Sie ließ uns drei Stunden lang durch die Inkarnationen der Buddhas schweben.

Zum gemeinsamen Abendessen trafen wir viele unserer ehemaligen Kolleginnen und Kollegen wieder – ein bewegender Moment. Bei allem Leid sahen wir aber auch positive Entwicklungen und Veränderungen: In den Kliniken, in denen wir mit unseren burmesischen KollegInnen zusammenarbeiteten, hat sich einiges verbessert. Die Abteilung für plastische Chirurgie ist ins alte britische Hospital zurückgezogen, wo großzügigere Räumlichkeiten zur Verfügung stehen. Aktuell wird eine neue Verbrennungsstation aufgebaut – ein Vorhaben, das wir vor 15 Jahren mit dem Klinikum Bogenhausen umsetzen wollten, damals jedoch an den Kosten scheiterten.

Besonders erfreulich war die Entwicklung in der Mikrochirurgie: Bei unserem ersten Einsatz in Myanmar vor fast 30 Jahren hatte Prof. Biemer diese Technik vorgestellt. Es dauerte Jahre bis entsprechendes Equipment verfügbar war. Mit viel Geduld und Engagement konnten wir die Ausbildung vorantreiben. Heute führt Prof. Myitzu Win diese Tradition erfolgreich fort. Unser ehemaliger Schüler, Dr. Saw San Naing („Sunny Boy“), hat die Technik in der Kiefer-Chirurgie etabliert und setzt sie heute regelmäßig  bei PatientInnen mit Mundbodenkarzinom, einer häufigen Folge des Betelnusskonsums, ein. Sunny hofft auf einen baldigen gemeinsamen Workshop zum Erlernen der freien Fibula als Unterkieferersatz und Myitzu Win zum Erlernen des Diep Flap für die Brustrekonstuktion.

In Mandalay trafen wir Dr. Thun Thun Than, der seine Klinik nach dem Erdbeben hatte verlassen müssen (siehe Foto). In einer kleineren Übergangsklinik zeigte er uns Patienten mit schweren Gesichtsverletzungen, sie waren erschütterndes Zeugnis für das Ausmaß der Gewalt. Der Mut dieser Menschen, ihre Entschlossenheit und Hilfsbereitschaft, ist ungebrochen und zutiefst bewundernswert. In dem aus Trümmern improvisierten Hospital gaben wir ihnen unser Versprechen, sie beim Wiederaufbau ihres OP-Saals zu unterstützen. In einer Zeit, in der alles verloren scheint, ist dieses Versprechen für sie ein kleiner Funke der Hoffnung.

Der Generalstreik der Ärzte nach dem Putsch 2021 war ein mutiger Akt, ein klares Zeichen des Widerstands, des Gewissens und der Integrität. Doch nach drei Jahren wird auch die Kehrseite sichtbar – und sie ist brutal: Über 650.000 PatientInnen konnten nicht behandelt werden. 150.000 starben, weil Kliniken geschlossen, OPs verboten oder ÄrztInnen untergetaucht waren. Was aus moralischer Überzeugung begann, wurde zur Tragödie für die Schwächsten. In Gesprächen mit unseren burmesischen KollegInnen spürten wir diese Zerrissenheit. Manche hatten sich dem Streik angeschlossen im Bewusstsein, dass medizinische Versorgung unter der Militärregierung eine stille Komplizenschaft sei. Andere hatten weiterbehandelt, heimlich, in Privatkliniken, um wenigstens den Ärmsten zu helfen. Einige wurden verhaftet, andere mussten untertauchen. Und manche wurden später wieder eingestellt, weil ihre Arbeitskraft plötzlich wieder gebraucht wurde. In einigen Privatkliniken arbeiteten die ÄrztInnen weiter, bis zur Schließung durch das Regime. Später wurden diese oft wieder geöffnet, wenn Generäle wirtschaftlich beteiligt waren – eine zutiefst zynische Realität.

Auch Dr. Thet Thet war betroffen. Er war anderthalb Jahre in Haft, wurde gefoltert, verlor seine Stelle, konnte aufgrund eines Deals mit dem Militär wieder als Spaltchirurg tätig werden – mit der ständigen Bedrohung, dass auch sein Sohn zwangsrekrutiert werden könnte. Sein Blick, wenn er über den Streik sprach, war ernst – nicht verbittert, aber getragen von Schmerz. „Wir haben getan, was wir für richtig hielten,“ sagte er leise. „Aber der Preis war hoch.“

Es gibt keine einfachen Antworten. Nur Fragen. Und das Gefühl, dass in Diktaturen jede Entscheidung eine Last trägt. Andreas und ich haben oft darüber gesprochen, wir können beide Seiten verstehen. Und, wir haben erfahren: Wer dort lebt, urteilt anders. Muss anders urteilen. Trotz allem ist eines klar: Diese ÄrztInnen haben nicht aufgegeben. Sie haben nicht kapituliert. Sie haben inmitten von Gefahr, Spaltung und Tod versucht, ihrem Eid treu zu bleiben. Und genau das macht sie zu Vorbildern - nicht trotz, sondern wegen ihrer Zweifel.

Fährt man durch Mandalay, so sind nicht ganze Straßenzüge, sondern nur einzelne Häuser in der Straßen zusammengefallen oder eingeknickt. Überall stehen Zelte, Bambusgerüste, halb eingerissene Häuser. Die zahlreichen Klöster und Tempel wurden kompakt aus Ziegeln gebaut, die dennoch häufig in der Mitte zerborsten sind. Große Buddhaköpfe liegen auf der Straße. Alte Menschen tragen Reissäcke über Trümmerfelder. Kinder spielen neben Baugruben. Wir fahren entlang des großen Irrawaddy-Flusses, vorbei am üppigem Fischmarkt und den am Ufer aufgereihten Zelten für die Obdachlosen. Auf der anderen Seite des Flusses fällt der Blick auf eine hügelige Landschaft mit zahlreichen zerstörten Tempeln - deutlich sichtbar nicht nur Folge des Erdbebens, sondern auch des Bürgerkrieges und der komplett verminten Landschaft.

Abends sitzen wir in einem wunderbar gestalteten chinesischen Hotspot-Restaurant, zwischen Familien und spielenden Kindern, wissend, dass 400 m weiter der Bürgerkrieg tobt. Das ist erlebte Absurdität, die einen gewissen Grenzwert in uns erreicht hat: Was erwartet die Menschen auf der anderen Seite? Zwangsarbeit, Zwangsumsiedlung, Zwangsrekrutierung, Brandbomben, Elend und Tod - Bürgerkrieg.

Doch auch in dieser Dunkelheit gibt es Helfer. Menschen wie Oliver Esser Soe Thet, unserem langjährigen Kontaktmann in Myanmar, die trotz der Gefahr von Nachbeben und Luftangriffen in die Flüchtlingslager gehen, um zu helfen. Er verteilt mit seinen Leuten von der Myanmar Chefs Association Nahrung, Medizin und medizinisches Material für die illegalen Kliniken - und Hoffnung. Wir konnten ihn, seine Frau Khet Khet und mir altbekannte Helfer aus Ngapali in die Zeltlager begleiten, wo sie seit Tagen u.a. über 1000 (40kg) Reissäcke und Speiseöl unter den Familien verteilten.

Mit Bambus, mit Zelten, mit der Kraft des menschlichen Willens bauen die Menschen in Myanmar langsam und leise ihre Zukunft wieder auf. Sie haben keine andere Wahl. Myanmar hat keine Wahl – aber auch wir nicht. Wir dürfen diese Menschen nicht vergessen. Wir dürfen ihre Kämpfe nicht ignorieren. Ihr Leid ist unser Leid, ihre Hoffnung ist unsere Hoffnung. Wenn wir sie jetzt nicht unterstützen, werden wir uns irgendwann die bittere Frage stellen müssen: „Warum haben wir zugesehen, als sie um ihr Leben kämpften?“

Myanmar hat viele HelferInnen – innerhalb und außerhalb des Landes. Trotz aller Rückschläge bleibt unser Engagement vor Ort ein Zeichen der Hoffnung.   


Anicca. Dukkha. Annata. 
Life is suffering.
Nothing is permanent.
No ego.



Für IP-MUC,
Euer Heinrich Schoeneich


Diesen Bericht mit bewegenden Einsatz-Fotos findet Ihr in den nächsten Tagen auch auf unserer Webseite.






MYANMAR nach dem Erdbeben - Wiederaufbau der medizinischen Infrastruktur