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Der Kanton Gorazde während des Krieges und heute

G. Müller
G. Müller wrote on 07-09-2013

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe LeserInnen,

hier kommt nun der zweite Teil des Berichts ueber den therapeutischen Erholungsaufenthalt im Sommer 2013.
Zum besseren Verständnis der Erfahrungen der Mütter / Eltern während des Krieges geben wir hier noch einmal eine Hintergrundinformation über Gorazde im Krieg und heute.

Herzliche Gruesse

Gabriele Mueller

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Hintergrund: Der Kanton Gorazde während des Krieges und heute

Gorazde – vor dem Krieg eine idyllisch an dem Fluss Drina gelegene Kleinstadt mit mehrheitlich bosniakischer Bevölkerung – hat neben Srebrenica und Zepa während des Krieges eine traurige und schreckliche Berühmtheit erlangt – als „Schutzzone, die nicht geschützt wurde“. Seit Anfang des Krieges im Frühjahr 1992 war Gorazde, als überwiegend muslimische Enklave im von den serbischen Nationalisten dominierten Teil Bosniens („Republika Srpska“) eingekesselt und erlebte – wie Srebrenica – dreieinhalb Jahre ständige heftige Granatierung, Sniperbeschuss und eine furchtbare Hungersnot. Tausende Flüchtlinge aus den verbrannten Dörfern und Kleinstädten der Umgebung suchten – schwer traumatisiert – Schutz in der kleinen Gorazder Enklave, die schon die eigene Bevölkerung nicht ernähren konnte.

Die Menschen in Gorazde lebten in der ständigen Angst, von den Karadzic-Truppen und Einheiten aus Serbien überrollt zu werden. Was das bedeutet hätte, wussten sie aus den Berichten der Flüchtlinge und Überlebenden der Massaker und der Folter- und Vergewaltigungs-Lager aus Visegrad, Foca und anderen ostbosnischen Städten, die bereits 1992 zunächst von der Jugoslawischen Volksarmee besetzt und dann von den serbischen Freischärlern übernommen worden waren. Vergewaltigungen an Frauen und Mädchen wurden auch in diesem Krieg systematisch eingesetzt, um den Gegner zu demoralisieren und psychisch zu vernichten.

Im Sommer 1995 gab es schließlich Bestrebungen der internationalen Gemeinschaft (USA und EU) wie auch der damaligen bosnischen Regierung, Gorazde ebenso zu „opfern“ wie Srebrenica und Zepa, da sich Bosnien dann hätte „leichter aufteilen lassen“. Die bosniakische Enklave im serbisch dominierten Gebiet sollte den Serben zugeschlagen werden. Nur aufgrund der weltweiten Empörung über den Fall und die Massaker von Srebrenica und die Untätigkeit der UN-Truppen dort entschieden die europäischen und amerikanischen Verhandler schließlich, dass die Enklave Gorazde als Gebiet der kroatisch-bosniakischen Föderation innerhalb Bosnien-Herzegowinas erhalten und durch eine geschützte Straße mit dem übrigen Gebiet der Föderation verbunden bleiben solle. Dies rettete die Menschen in der Enklave (die verbliebene Bevölkerung sowie eine große Zahl an Flüchtlingen) knapp davor, dasselbe Schicksal wie die Menschen in Srebrenica (Eroberung, Vertreibung und Massaker) zu erleiden.

Heute – auch 17 Jahre nach dem Abkommen von Dayton – ist die Situation in Bosnien-Herzegowina insgesamt noch immer besorgniserregend und außerordentlich angespannt. Auf allen politischen Ebenen (gesamtstaatlich, in der Föderation, auf Kantonsebene oder in der Stadtverwaltung), sind Stagnation, Blockadepolitik, Destruktion, Obstruktion und Selbstbereicherung vorherrschend. Insbesondere in den ländlichen Bereichen herrscht eine Atmosphäre der Resignation, der Depression und Angst – viele Menschen empfinden ihre aktuelle Lage subjektiv sogar als hoffnungsloser als direkt nach Kriegsende.

Drei Faktoren stellen sich nach unserer Einschätzung als Hauptursachen für diese Stagnation bzw. gar Verschlechterung der Lage dar:

1. Die ökonomische Situation hat sich in den letzten Jahren für weite Teile der Bevölkerung weiter verschlechtert: Arbeitslosigkeit, massive Rentenkürzungen bis zum Entzug von Invalidenrenten, Perspektivlosigkeit für junge Menschen haben dazu geführt, dass immer mehr Menschen in bitterer Armut leben.

2. Die für den Krieg Verantwortlichen (d.h. die Vertreter der nationalistischen Parteien) sitzen noch immer zu einem guten Teil in führenden Positionen und beeinflussen maßgeblich die Politik. Durch politisch geschürte Spannungen stagniert jeder Fortschritt in der gesellschaftlichen Entwicklung. Außerdem kann von einem wirklichen Rechtsstaat, der allen Bürgerinnen und Bürgern Rechtssicherheit, Gerechtigkeit und soziale Sicherheit garantieren könnte, nicht wirklich gesprochen werden. Die politische Situation und der Mangel an Rechtsstaatlichkeit begünstigt Korruption in hohem Maße. Die systematischen Ungerechtigkeiten erwecken in vielen Menschen massive Gefühle der Frustration und Ohnmacht – die bei Traumatisierten zu einer ständigen Retraumatisierung führen (s. u. nächster Punkt).

3. Noch immer leidet ein großer Teil der Bevölkerung an unverarbeiteten Kriegstraumata, die als posttraumatische Symptome, in lebensbedrohlichen Erkrankungen (Schlaganfall, Herzinfarkt, Krebs), Suchterkrankungen und (verstärkt durch die aktuellen Existenzängste) in massiven sozialen Problemen zum Ausdruck kommen. So ist z.B. ein wachsendes Aggressionspotential wahrzunehmen, das u.a. zu einem Anstieg der innerfamiliären Gewalt (gegenüber Frauen und Kindern), als auch zu erneuten Spannungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungs- / Religionsgruppen führt.

Die unbewältigten Traumata durch Kriegs- und Gewalterfahrungen in Verbindung mit der aktuellen desolaten Situation führen bei den Betroffenen unter anderem zu einem anhaltenden Gefühl der Bedrohung und Ohnmacht, das von den nationalistischen Parteien aller Seiten für ihre Propaganda missbraucht wird. So gelingt es den Nationalisten bei Wahlen immer wieder die Mehrheit der Stimmen zu bekommen. Aber auch die nicht-nationalistischen Parteien sind praktisch alle in Korruptionsskandale verstrickt, sodass ein wachsender Teil der Bevölkerung gar keinen Sinn mehr darin sieht, zur Wahl zu gehen.

Das Ausmaß der Traumatisierung der Bevölkerung ist besonders in den ländlichen, vom Krieg und Menschenrechtsverletzungen besonders betroffenen Gebieten wie dem Kanton Gorazde sehr groß. Die Kinder des Krieges sind heute selbst junge Erwachsene mit eigenen Familien und eigenen Kindern, an die sie oft unbewusst die eigenen Kriegstraumata transgenerationell weitergeben. Die Kinder, mit denen wir im SEKA-Haus arbeiten stammen zu einem großen Teil aus diesen belasteten Familien. Auf die Auswirkungen, die die Traumatisierung der Eltern auf die Kinder hat, gehen wir bei der Beschreibung der Kindergruppe noch näher ein.

Die Spannungen zwischen der serbischen und der bosniakischen Entität sind auch im Kanton Gorazde nach wie vor groß. Noch immer besteht ein tiefes Misstrauen bei den (überwiegend) bosniakischen Opfern von Lagerhaft, Vergewaltigungen, Grausamkeiten und Vertreibungen, die – vertrieben aus den umliegenden Orten – heute zum großen Teil in Goražde leben.

Im Kanton Gorazde ist die gesamte Bevölkerung mehr oder weniger stark kriegstraumatisiert. Bis zur Eröffnung des Projekts SEKA in Gorazde gab es jedoch keinerlei psychotherapeutische Hilfe. Die schlecht ausgestatteten lokalen Gesundheitsdienste sind überfordert von dem Ausmaß an Problemen, insbesondere bzgl. der psychischen und sozialen Langzeitfolgen der Traumata der Menschen. Es werden nur die gravierendsten Fälle von PTBS (Posttraumatischer Belastungsstörung) behandelt und dies ausschließlich mit Medikamenten. Es mangelt an Fachpersonal. Die wenigen Mitarbeiterinnen der Gesundheits- und Sozialdienste sind in der Regel selbst traumatisiert und ausgebrannt.

Aus diesem Grund hatten wir uns entschieden, das Projekt Kuca SEKA im Sommer 2007 von der Adria-Insel Brac (Kroatien)nach Gorazde umzusiedeln, um hier insbesondere den Frauen und Kindern der lokalen Bevölkerung psychotherapeutische und psycho-edukative Hilfe anzubieten. Bei Bedarf werden auch die Männer / Väter in die Arbeit mit einbezogen – in Zusammenarbeit mit dem Veteranenklub „Svjetlost Drine“ (=“Licht der Drina“), dessen Aufbau SEKA mit initiiert hat und dessen Arbeit wir weiter durch psycho-edukative Seminare, sowie Angebote von Traumatherapie, Supervision und Beratung begleiten.

Fortsetzung im naechsten Blog..



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