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Interview mit James Kunduno – Projektleiter von AIM

B. Hahn
B. Hahn wrote on 22-03-2017
1. Lieber James, Du bist Projektleiter des Amazonian Initiative Movement (AIM), der Partnerorganisation von TERRE DES FEMMES (TDF), in Lunsar/Sierra Leone. Was sind dort Deine Aufgaben?
Ich bin seit der Gründung von AIM im Jahr 2000 Koordinator für das AIM-Programm in Sierra Leone und Guinea. Zu meinen Aufgaben gehören die Koordination und Kommunikation mit Organisationen und Institutionen innerhalb und außerhalb von Sierra Leone, die mit uns zusammen arbeiten und/oder uns Spenden für unsere Arbeit zur Verfügung stellen.Auch leite, verwalte und evaluiere ich die tägliche Projektarbeit von AIM. Dazu gehören z.B. die an Mädchen und Frauen gerichteten Kampagnen zum Thema „Stoppt FGM“, die auch das Schutzhaus, das TDF fördert, einschließen.Übergreifend bin ich dafür verantwortlich, die Vision, Ziele und Aktivitäten von AIM hier und im Ausland zu vermitteln und weiterzuentwickeln. 

2. Das Schutzhaus bietet Mädchen, die von einer Genitalverstümmelung bedroht sind, ein Zuhause. Ursprünglich war das Schutzhaus für 15 Mädchen angelegt. Wie viele Mädchen leben aktuell dort?
Sie haben Recht, das Schutzhaus war zunächst für 15 Mädchen gedacht, doch die meiste Zeit, besonders letztes Jahr, haben mehr als 20 Mädchen dort gelebt. 

3. Gibt es tatsächlich Mädchen, die zu Hause nicht mehr sicher sind, weil sie zur Not gewaltsam beschnitten werden sollen?
Ja, es gab bereits Mädchen, die kurz davor waren, zu einer Beschneidung gezwungen zu werden. Dank der Unterstützung der Polizei und einiger mutiger Mitarbeiter des Sozialamts, konnten über 20 von ihnen befreit werden. Sie waren gegen ihren Willen von Befürwortern der Beschneidung festgehalten worden. Der Vorfall wurde dem Stadtrat gemeldet und die Verantwortlichen zur Vernehmung von der Polizei festgenommen. Das war ein Erfolgserlebnis für AIM. Die Mädchen wurden anschließend in ihre jeweiligen Schulen zurückgebracht und können nun ihren Bildungsweg fortsetzen. Manche von ihnen hätten zu Beschneiderinnen ausgebildet werden sollen. Mit den Eltern und Gemeinden wurden Mediationsgespräche geführt und die Mädchen konnten wieder nach Hause zurückkehren. Die Mittel von TDF haben uns erheblich geholfen, diese Mediationsgespräche zu ermöglichen, etwa durch die Finanzierung von Fahrten, Mahlzeiten, medizinischer Versorgung und Nachbetreuung in den Polizeistationen usw.

4. Wie lange lebt ein Mädchen durchschnittlich im Schutzhaus?
Durchschnittlich bleiben sie sechs Monate bis mehrere Jahre im Schutzhaus.

5. Wie sieht ein typischer Tag eines Mädchens im Schutzhaus aus?
So wie der eines jeden anderen Mädchens auch, nur erhalten sie mehr Betreuung und Orientierungshilfe. Diese sollen ihr Selbstwertgefühl stärken und ihnen ermöglichen, ihr volles Potential zu entfalten. Sie gehen zur Schule, kommen zurück, nehmen ihre Mahlzeiten ein und haben genug Zeit, um sich auszuruhen. Sie lernen für die Schule, machen ihre Hausaufgaben und gehen abends schlafen. Der Jahreszeit entsprechend lernen sie auch, im Garten Obst und Gemüse anzubauen. Am Wochenende putzen sie das Schutzhaus und machen ihre Wäsche. Jede Woche flechten sie sich die Haare und probieren neue Frisuren aus. Am Wochenende bekommt das eine oder andere Mädchen Besuch von seinen besorgten Eltern. Die Mädchen im Schutzhaus, die christlichen Glaubens sind, nehmen am Gottesdienst ihrer Kirchen teil. In ihrer Freizeit organisieren die Mädchen Geburtstagsfeiern in sehr kleinem Umfang, sie erzählen sich Geschichten, singen und tanzen zusammen. Im Austausch mit der Sozialarbeiterin des Schutzhauses geht es viel um FGM und andere schädliche traditionelle Praktiken, wie frühe Zwangsverheiratung. Auch mit Schwangerschaften im Teenageralter und der Wichtigkeit von Bildung setzen sie sich auseinander. Gesprächsrunden zu Konfliktmanagement, reproduktiver Gesundheit und Körperhygiene gab es auch schon.

6. AIM führt auch Gespräche mit den Eltern der Mädchen, um eine geplante Beschneidung zu verhindern. Waren diese Mediationsgespräche bisher erfolgreich? Welche Bedenken teilen Ihnen die Eltern mit? Wer aus der Familie entscheidet letztlich, ob es zu einer Beschneidung kommt?
Manchmal sind die Mediationen ergiebig und manchmal stellen sie eine Herausforderung dar. Die Bedenken mancher Eltern sind, von einem Zauber bzw. schwarzer Magie befallen zu werden, die ihre Tochter in den Wahnsinn treiben oder sie gesellschaftlich aus der Reihe tanzen lassen könnte. Sie glauben, dass sich ihre Tochter mit einer unheilbaren Krankheit infizieren könnte oder dass ein böser Geist das Mädchen heimsuchen und zu ihrem plötzlichen Tod führen könnte. Andere fürchten, wenn sie keinen Zwang auf ihr Kind ausüben, würden sie von Familienmitgliedern verurteilt und könnten bei sozialen, kulturellen oder finanziellen Problemen nicht auf deren Hilfe zählen. Auch haben viele Eltern Sorge, dass ihre Tochter in der Gesellschaft als sexuell „ungezügelt“ angesehen werden könnte und so schlechte oder gar keine Heiratschancen hätte.

7. Bietet das Schutzhaus bedingungslose Sicherheit? Oder gibt es doch mögliche Risiken, z.B. dass Mädchen von Familienmitgliedern entführt werden?
Derzeit bietet das Schutzhaus keinen 100%-igen Schutz für die Mädchen, da der Zaun um das Schutzhaus herum noch nicht fertiggestellt ist. Außerdem fehlt ein Tor. Diese Bedenken teilte mir die Hausmutter während meines letzten Besuchs mit.Letztes Jahr retteten wir zwei Mädchen in letzter Minute vor der Beschneidung. Den Eltern der Mädchen war unter Drohungen auferlegt worden, ihre Töchter aus dem Schutzhaus zu nehmen. Die Mutter der Kinder gab schließlich vor, ihre Töchter zu besuchen, kidnappte die Mädchen jedoch unbemerkt aus dem hinteren Garten des Schutzhauses. Wir mussten sie verfolgen, um die Mädchen zurückzubringen. Die Wasserstation ist außerhalb des Schutzhauses, daher sind wir auf eine große Pumpe angewiesen, um die sanitären Anlagen mit Wasser zu versorgen. Besonders nachts ist das nicht sicher. Wir brauchen auch Strom, entweder durch Anschluss an das nationale Stromnetz oder per Solaranlage, die uns 24 Stunden mit Licht versorgt, aber mit weniger Ausfällen und geringeren Wartungskosten verbunden ist. Wichtig ist auch das Thema Transport – die Mädchen müssen noch sicherer als jetzt zur Schule und wieder zurück gelangen. 

8. Alle Mädchen im Schutzhaus gehen weiter zur Schule. Manchen von ihnen wurde mit einem Schulabbruch gedroht, sollten sie einer Beschneidung nicht zustimmen. Bildung in Sierra Leone ist nicht umsonst. Wie vielen Mädchen kann AIM eine Bildung ermöglichen? Zahlen auch manche Eltern das Schulgeld weiter?
In diesem Schuljahr haben wir das Schulgeld für 15 Mädchen aus dem Schutzhaus bezahlt, letztes Jahr mussten wir die Kosten für 21 Mädchen tragen. Das alles war uns durch die Unterstützung von TDF möglich. Die US-Amerikanische Botschaft in Sierra Leone übernahm in einer anderen Region das Schulgeld für 140 Mädchen, die sich nicht beschneiden lassen wollten.  In den Dörfern lassen viele Familien ihre Töchter beschneiden, weil sie das Schulgeld für die Mädchen nicht mehr aufbringen können. Durch die Beschneidung können sie ihre Töchter früh verheiraten, denn eine beschnittene Frau findet leichter und schneller einen Ehemann. Somit können die Eltern der „Schande“ entgehen, die Schulkosten für ihre Töchter nicht weiter tragen zu können. Die Finanzierung der Schulkosten durch TDF stellt für die Eltern oft eine enorme Erleichterung dar, da die Mädchen weiterhin ihren Bildungsweg verfolgen können, die Wahrscheinlichkeit eines Schulabbruchs sinkt und sie nicht früh verheiratet werden.

9. Was betrachtest Du als den bisher größten Erfolg in Deiner Arbeit?
Mädchen vor dem so genannten Geheimbund der Beschneiderinnen gerettet zu haben, bevor eine Beschneidung vorgenommen werden konnte oder eine Initiationszeremonie durchlaufen wurde.Wir bringen die Mädchen zurück zur Schule und ins Schutzhaus. Dort können wir sie in allen moralischen, schulischen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Belangen unterstützen. 

10. Gab es auch Rückschläge in Deiner Arbeit?
Eine Herausforderung stellen für uns die begrenzten Finanzierungsmittel dar, besonders für die Verwaltungsaufgaben im Büro. Wir erhalten keine laufende Finanzierung für unsere Mitarbeiter und das Büro. Die Spenden von TDF fließen in die Versorgung der Mädchen im Schutzhaus, in Mediationsgespräche mit den Eltern und in die Gehälter der Sozialarbeiterin und der Köchin. Doch auch diese Gelder sind begrenzt. Plan International überließ AIM nach dem Ende eines früheren Projekts einen Stromgenerator und Motorräder, doch fehlen uns Sprit und Gelder für den Betrieb und die Wartung der Maschinen. Auch Zwangsbeschneidungen können ohne entsprechende Mittel nicht verfolgt und die Verantwortlichen nicht angeklagt werden. 

11. Was tut AIM noch, um FGM in Sierra Leone zu verhindern?
Wir dehnen unsere Aktivitäten auf neue Gemeinden aus und führen gleichzeitig die Arbeit in den alten Gemeinden fort. Dabei geht es immer darum, das öffentliche Bewusstsein für die Menschenrechtsverletzung Genitalverstümmelung zu steigern und Politiker zu überzeugen, die Beschneidung und andere schädliche Praktiken wie etwa Frühehen gesetzlich zu verbieten. Wir werben für ein Ende von FGM in Sierra Leone und dafür, dass eine Aufklärung gegen FGM in den Grundschulunterricht mit aufgenommen wird. Außerdem gründet AIM in einigen Gemeinden Schulen, die mit Gesundheitseinrichtungen kooperieren und in denen Menschenrechte und Menschenrechtsverletzungen wie FGM Thema sind. Jugendliche sollen sich, unabhängig davon, ob sie die Schule besuchen oder nicht, mit Menschenrechten auseinander setzen. Daher veranstaltet AIM zudem Diskussionsrunden auf Dorfebene. Außerdem sollen Beschneiderinnen Alternativen zu ihrer bisherigen Arbeit geboten werden, etwa in der Landwirtschaft, im Textildruck, in der Seifenherstellung und im Mikrokreditgewerbe.

12. Hat AIM die Zusammenarbeit mit TDF geholfen, mehr Einfluss zu gewinnen und die Bewegung der Zivilbevölkerung gegen FGM zu stärken?
Ja! Mit der Partnerschaft und finanziellen Hilfe wurde und wird viel erreicht. AIM konnte v.a. mit dem Schutzhaus Einfluss gewinnen und seine Glaubwürdigkeit erhöhen. Wir arbeiten nicht „nur“ politisch und sensibilisieren, sondern schützen Betroffene und bieten ihnen ein sicheres Zuhause. Wir sind die einzige Organisation in Sierra Leone, die ein Schutzhaus zur Verfügung stellt. Trotz massiver Anfeindungen zu Beginn sind wir sehr weit gekommen. Heute wird AIM von nationalen Foren und internationalen Partnern zu Rate gezogen, wenn es darum geht, FGM in Sierra Leone ein Ende zu setzen. Neben dem Kampf gegen FGM sind wir auch gegen Frühverheiratung, Initiationen im Kindesalter und andere schädliche Praktiken aktiv, die die Entwicklung und Selbstbestimmung von Mädchen und Frauen in Sierra Leone verhindern.

13. Was sind deine zukünftigen Ziele im Engagement gegen FGM?
Ich kann den momentanen Bedarf in ganz konkreten Stichpunkten zusammenfassen:
1. Ausbau und Renovierung des Schutzhauses 
2. Strom für das Schutzhaus, ob durch Anschluss an das Stromnetz oder eine Solaranlage
3. Fließend Wasser im Schutzhaus, v.a. in den Toiletten 
4. Umzäunung des Schutzhauses und Bau eines Tors
5. Übernahme von Transportkosten zwischen Schutzhaus und Schule
6. Ein Berufstrainingszentrum für ehemalige Beschneiderinnen zur Erschließung alternativer Einkommensquellen 
7. Förderung von Lobbyarbeit, um ein gesetzliches Verbot gegen FGM zu erwirken
8. Förderung von Bewusstseinsbildung auf allen Ebenen und in allen Regionen 

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James Kunduno mit einer Köchin und Sozialarbeiterin von AIM
©AIM

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