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Naikan – Zeit zum Nachdenken während der Corona-Krise

Jörg Alex Fot
Jörg Alex Fot schrieb am 18.04.2020
Die Entdeckung der Langsamkeit

Der Name eines Erregers steht  dafür,  dass weltweit Dinge im sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben von Millionen von Menschen ins Wanken kommen und zusammenbrechen, die bis vor kurzen noch so stabil wirkten. Das weltweit tätige Virus absorbiert darüber hinaus ein riesiges Maß an Aufmerksamkeit und Lebensenergie:  Covid 19 ist da - man sieht es nicht, und doch haben es alle durch die moderne Technik vor den Augen, in den Ohren und im Kopf. Dabei ist der „Feind“ nicht zu sehen.

Eines können wir sagen, wir machen alle eine ganz neue Erfahrung. Selbstverständliche Abläufe, die unseren alltäglichen Rhythmus bestimmt haben, greifen nicht mehr. Die Welt steht in weiten Teilen still. Wir sitzen Zuhause und fühlen uns wie ausgebremst. Von Hundert auf Null. Keine Kontakte zu Freunden, zu Kollegen, zu weiter entfernten Verwandten, kein Sport, kein Fitness, keine Sauna, keine Theater-, Kino- oder Restaurantbesuche.

Wenn wir plötzlich mehr Zeit für uns haben, weniger Termine und Stress im Spannungsfeld zwischen Beruf, Familie und dem, was wir sonst noch im Leben untergebracht haben, kommt Zeit frei, mit der jeder umgehen darf und muss.

Angesichts erzwungenem beruflichem Rausgenommensein und körperlicher Distanz, entsteht bei vielen Menschen eine Menge Raum zum Nachdenken.

So negativ eine Krise zunächst aussieht, die uns unser Wohlbefinden nimmt, zwingt sie uns zu Veränderung. Und tatsächlich ist sie auch eine große Gelegenheit. Eine Gelegenheit, sich das eigene Leben und das, was uns wirklich, wirklich wichtig ist und Bedeutung hat, genauer anzuschauen. Man kann dabei entdecken, was wichtiger ist als nur „ich selber“ und meine eigene Gefährdung. Und mancher stößt darauf, dass wir Menschen soviel Angst vor dem Leben haben, was es uns bringt und bringen könnte, dass wir es gar nicht richtig leben.

Wie also wäre es, jetzt die Ausnahmesituation zu nutzen, um aus dem gewohnten Hamsterrad auszusteigen?

Beispielsweise, um einmal über sich selber nachzudenken: Z. B. wie man seine Lebenszeit nutzt. Oder was einen von anderen Menschen trennt: Wo gibt es Dissonanzen? Wem oder was schenke ich meine Aufmerksamkeit? Wovon lasse ich mich beeinflussen? Was trennt mich von dem, wie ich wirklich sein will? Was für Werte habe ich im Herzen? Worum soll es in meinem Leben gehen?

Und, ja - auch damit: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was möchte ich anderen Menschen gerne geben? Was könnte ich tun, um die Welt ein bisschen schöner zu hinterlassen?

Denn: Covid 19 konfrontiert uns auch mit der Möglichkeit, den einen oder anderen Menschen aus unserem sozialen Umfeld zu verlieren.  Abgesehen von der Möglichkeit des eigenen Todes.

Eine Entschleunigung bzw. ein wirkliches Innehalten bietet die Möglichkeit, etwas sichtbar zu machen, worüber wir sonst hinwegsehen: Das Tragende in unserem Leben, das stets da ist. Wir entdecken selbst die tiefere Dimension unseres Daseins: Unsere Stärken, unsere Schwächen, aber auch unser enormes menschliches Potenzial an Offenheit, Wohlwollen, Experimentierfreude, Empathie, Liebe und anderer guter Eigenschaften. Es ist dem Menschen zwar angeboren, aber oft schwer sichtbar - besonders für die eigenen Augen. Es gilt, dieses Potenzial zu entfalten und in diese Welt einzubringen.

Naikan, eine aus Japan stammende achtsamkeitsbasierte Selbsterfahrungsmethode, ist hier ein kraftvolles und wertvolles Werk­zeug dazu. Das Wort "NAIKAN" kommt aus dem Japanischen und bedeutet übersetzt "nai" = innen, "kan" = beobachten, also innere Beobachtung oder Innenschau. Die Methode arbeitet mit drei einfachen Fragen, die der Teilnehmer für verschiedene Bezugsperso­nen anwendet und beantwortet. Erstens, was hat diese Person für ihn und zweitens, was hat er für diese Person getan? Die dritte Frage, auf der meistens der Schwerpunkt liegt, befasst sich mit den Schwierigkeiten, die der Teilnehmer der Bezugsperson bereitet hat. Die meist sehr präsente vierte Frage: Welche Schwierigkeiten hat mein Gegenüber, haben die Um­stän­de mir bereitet? wird einmal ganz bewusst ausgelassen. Der Grund: Wir kennen die Antworten darauf bereits, und sie bringen uns nicht weiter. Es geht also hier darum, einmal den Weitwinkel einzustellen. In der Selbster­fahrung geht es um die Wahrnehmung der eigenen Denkmuster, Handlungsweisen, Gefühle, Fähigkeiten, Vorurteile, Wertvor­stellungen etc. „Die Wurzeln der Naikan-Methode reichen zurück in die buddhistische Tradition, etwa in die der asketischen Übung des Zen. Wobei Naikan keine besonderen Kenntnisse oder Meditations­erfahrung voraussetzt und völlig frei von religiösen Inhalten und Formen ist. Die einzige Voraussetzung für die Praxis des klassischen NAIKAN ist die Bereitschaft sich in Stille und völliger Abgeschiedenheit von Außenreizen mit sich selber einzulassen und sich für acht Tage * in Klausur zu begeben“, erklärt Jörg Alex Fot. Einzige Kontaktperson in dieser Zeit ist der Kursleiter, der die Teilnehmer im rund 90-minü­tigen Abstand aufsucht und nach ihren Erinnerungen befragt. * Aus aktuellem Anlass bieten wir Naikan und telefonische Beratungsgespräche für Zuhause an (http://www.naikan.de/aktuelles)

Seit einem Jahr besteht in Schleswig-Holstein, in Travenhorst im Kreis Bad Segeberg, eine Einrich­tung, die zum Zeitpunkt ihrer Gründung die erste ihrer Art in Europa war: das Naikan-Institut bzw. die spätere Naikan-Zentrum gemeinnützige Gesellschaft mbH.

Ishin Yoshimoto, ein ehemaliger erfolgreicher Geschäftsmann, hatte Naikan in den 1940er Jahren entwickelt. Ende der 1970er Jahre wurde Naikan von Prof. Akira Ishii, Professor der Rechtswissen­schaften an der Aoyama-Gakuin-Universität in Tokyo, erstmals außerhalb Japans in Österreich und Deutschland vorgestellt.

In Travenhorst hat Jörg Alex Fot, der Leiter der Naikan-Gesellschaft, gemeinsam mit seiner Frau Charlotte, einen ehemaligen Pferdehof gekauft, in dem die jeweils achttägigen Naikan-Kurse in der erforderlichen Ruhe und Abgeschiedenheit stattfinden können. Auch in diesem Jahr hat das Naikan-Zentrum Prof. Ishii wieder als Leiter zu Gast. Darüber hinaus besteht (voraussichtlich, nach jetzigem Stand) im Juli 2020 die Gelegenheit, Prof. Ishii und Naikan auf einem seiner Vorträge in Hamburg und Lübeck kennenzulernen.

In Deutschland wurde Naikan durch den Gründer und Leiter des ersten Naikan-Zentrums, Gerald Steinke bekannt. Gerald Steinke, der im Jahr 2010 starb, hatte 25 Jahre lang mit seiner Frau Dorle wahre Pionierarbeit geleistet, und wir haben ihm Naikan in seiner heutigen Form und Bekanntheit zu verdanken.

Seit den 1990er Jahren wird Naikan erfolgreich z. B. im Strafvollzug, in der Suchthilfe, der Seelsorge und Altenarbeit eingesetzt. Justizministerien, kirchliche Einrichtungen, Schulen, Suchthilfeträger, Stiftungen, Universitäten, Kliniken und Unternehmen haben die Vorteile der Naikan-Methode er­kannt. Die Erfahrungen aus Schulprojekten in Bremen haben z.B. gezeigt, dass bereits schriftliches Naikan von nur zehn bis fünfzehn Minuten am Tag, Selbstverantwortung, Mitgefühl sowie das eigene Wohlbefinden fördert und bei den Übenden mehr Verständnis für ihr Gegenüber und die Gemein­schaft entwickelt.

Naikan bietet eine Befreiung aus der Kleinheit eines ichbezogenen Denkens hin zu einer umfassen­deren Sicht auf die Welt. Mit den Antworten auf die drei Fragen können wir die Perspektive wechseln, alte Gewohnheiten ändern und neue Lebensweisen in der Welt erproben und stärken. Mit Achtsamkeit, Mitgefühl und Weisheit, den mittleren Weg im Umgang mit dieser Herausforderung zu suchen, zu finden und zu gehen. Damit wir die Welt verantwortlich mitgestalten. 

Denn, wie ein kluges Sprichwort sagt, „Wer die Langsamkeit entdecken will, sollte zurück an den Anfang gehen -  zu sich“.

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Näheres unter http://www.naikan.de

Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit Ursula Birgit Nennstiel. Herzlichen Dank dafür!

(fot/urs)


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