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Ernährungsunsicherheit in Pandemiezeiten

(Gelöschtes Mitglied)
(Gelöschtes Mitglied) schrieb am 09.09.2020

"Coronavirus seems to feed voraciously on vulnerabilities.” Das Coronavirus scheint sich unaufhaltsam von Schwächen zu ernähren. Dieser Satz aus einem Artikel des World Food Programmes der Vereinten Nationen zur Corona-Situation in Bolivien hat vielschichtige Bedeutungsebenen. Was hat es damit auf sich?  Wie hängen Pandemie und Ernährung zusammen?

Fehl- und Mangelernährung sind entscheidende Risikofaktoren

Schon schnell nach Ausbruch der weltweiten Pandemie wurde klar: Das neuartige Virus trifft gerade die Schwächsten. Menschen mit Vorerkrankungen, einem beeinträchtigten Immunsystem und hohem Alter zeigen schwere Verläufe und lassen die Todeszahlen in die Höhe schießen. Ein Zusammenhang von Erkrankungen und Ernährungszustand lässt sich bei einer Vielzahl von Erkrankungen erkennen, so auch bei COVID-19.  Patienten mit Mangelernährung, Adipositas oder Anorexie wie auch Patienten mit Markern, die auf eine unausgewogene Ernährung hinweisen, werden öfter hospitalisiert und brauchen mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Beatmungstherapie.[1]

Hinzu kommt, dass sich die Infektionsketten genau dort ausbreiten, wo die Lebensräume überfüllt, das Gesundheitssystem instabil und die sanitären Verhältnisse prekär sind. Wie bereits andere Infektionserkrankungen zuvor führt auch COVID-19 zu überschießenden Zahlen in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern. Lateinamerika gilt bald als neuer „Corona-Hotspot“[2] und darunter der plurinationale Andenstaat Bolivien, der zurzeit weltweit eine der höchsten Todesraten durch das Virus aufweist.[3]


Ernährungsunsicherheit als Folge der Corona-Pandemie

Überfüllte Intensivbetten und leere Straßen prägen derzeit das Bild Boliviens und von Woche zu Woche wird deutlicher, dass die direkten Pandemiefolgen nicht die einzige Wunde sind, die Corona reißt. Die sogenannten indirekten Pandemiefolgen durch die Corona-Krise würden weit über die Folgen der Krankheit selbst hinausreichen mit langfristigen sozialen und wirtschaftlichen Folgen für den Einzelnen und die Gesellschaft.[4] Eine im Mai publizierte Studie im Lancet Global Health errechnet durch Modellierung verschiedener Szenarien, dass der Abbruch routinemäßiger Gesundheitsversorgung und der erschwerter Zugang zu Lebensmitteln (als Folge des Zusammenbruchs des Gesundheitssystems oder bewusster Entscheidungen als Reaktion auf die Pandemie) zu einer verheerenden Zunahme der Todesfälle bei Kindern und Müttern führen würde.

Ein Thema sticht unter den bedrohlichen Konsequenzen und möglichen Szenarien heraus: die Ernährungs(un)sicherheit – „the sting in the tail of COVID-194 – der Stachel im Schweif von COVID. Weltweit häufen sich die Bedenken, dass die Pandemie zu einer Pandemie des Hungers wird. Sowohl im Global Nutrition Report als auch in Report on Food Crisis wird betont, dass das Virus eine große Bedrohung darstellt und die Ernährungssysteme vieler Länder und ganzer Kontinente gefährdet. Unterbrochene Lieferketten, ausgefallene Löhne, Beschränkungen des globalen sowie lokalen Marktes durch Lockdowns und Preissteigerungen werden als Ursachen aufgeführt. „Covid does not treat us equally“ heißt es weiter, „millions of households in formerly food-secure regions of the world have fallen into severe food security” ((Covid behandelt uns nicht gleich […] Millionen Haushalte in ehemals ernährungssichern Regionen der Welt sind in gravierende Versorgungsnot geraten).

Und auch in diesem Aspekt ernährt sich diese weitere Pandemie von denen, die ohnehin schon gebeutelt sind. Kinder, die eine ausgewogene Ernährung für eine gesunde Entwicklung dringend benötigen, erhalten kein Schulessen, kleine Landwirtschaftsbetriebe haben nicht die Mittel, die Lockdown-Beschränkungen finanziell zu kompensieren. Die Landbevölkerung sowie indigene Bevölkerungen gelten in Lateinamerika als besonders vulnerabel und benötigen mehr denn je soziale Unterstützung. [5] Die Welthungerhilfe bezeichnet COVID-19 sehr passend als „Brandbeschleuniger“, der ohnehin schon eskalierende Situationen bedingt durch Folgen des Klimawandels, politische Instabilität oder Ähnliches anheizt.


Unser Projekt Ernährungssicherheit im Kontext der Corona-Pandemie in Bolivien

Inwiefern wirkt sich das konkret auf Bolivien aus? Die Vereinten Nationen kennzeichnen Bolvien als ein Land mit vorrangigem Risiko für drohende Ernäherungsunsicherheit und beziehen sich dabei auf die COVID-19-Fallzahlen und die aktuelle Rate der Mangel- und Unterernährung: Mit einer Rate von 17,1% an Unterernährung und aktuell 58855 aktiven Infektionen gehört Bolivien in Lateinamerika dazu. [6] Ungefähr 60% der Bevölkerung arbeiten zudem im informellen Sektor und sind durch die Lohnausfälle aufgrund der Quarantäne Maßnahmen schwer getroffen. Viele Familien litten ohnehin schon an den Konsequenzen der politischen Krise im vergangenen Jahr und COVID-19 droht das Fass zum Überlaufen zu bringen.

Was bedeutet das für unsere Projektregion Micani? Der Distrikt Micani weist seit Jahren den höchste Armutsindex für das ganze Land auf. Die Bevölkerung ist zum größten Teil in der Landwirtschaft tätig, die durch extreme Wetterbedingungen und Wassermangel in den letzten Jahren, verstärkt durch die Klimakrise, risikobehaftet ist. Die Ernährung basiert auf kohlenhydrathaltigen und lagerbaren Lebensmitteln wie Mais und Kartoffeln. Für Jugendliche und Kinder resultiert das in einer prekären Ernährungssituation. Daher bemühen wir uns seit Herbst letzten Jahres mit dem Bau von Schulgärten  an den ruralen Dorfschulen darum, diese Zustände zusammen mit der Lokalbevölkerung zu ändern. Ein mit bolivianischen Berufsschülern entwickeltes Mikrobewässerungssystem soll den Anbau von nahrhaftem Gemüse auch in der Trockenzeit ermöglichen. Vorwiegend an den Dorfschulen implementiert soll es dann als Leuchtturmprojekt für die einzelnen Familien fungieren und ihnen so die Werkzeuge mit an die Hand geben, die direkte Ernährung aber auch ihre wirtschaftliche Lage zu stärken.

Während der Corona-Pandemie wird immer deutlicher: Der Teufelskreis aus mangelhafter Ernährung mit resultierender Vulnerabilität für das Virus und die gleichzeitig drohende Pandemie des Hungers durch die indirekten Folgen von COVID-19 stellt die bestehenden Strukturen infrage. Ein tiefgreifender Wandel mit Stärkung lokaler Landwirte muss stattfinden und die Bausteine für ein „inklusiveres, umweltverträglicheres und resilienteres Ernährungssystem" [7] müssen gelegt werden. Menschen wie die Bevölkerung in Micani sollen die Möglichkeit haben, sich aus der aktuellen Krisensituation zu befreien und künftig besser in Krisenzeiten schützen zu können.

Das Coronavirus ernährt sich von Schwächen – gehen wir diese umfassend an!


Text: Leonie Ziller, 18.08.2020