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„Dann bin ich einfach sehr stolz auf unser Team...“

G. Müller
G. Müller schrieb am 21.02.2019

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Leser*innen,

wie im letzten Blog angekuendigt, wollen wir heute ausfuehrlicher ueber SEKAs Engagement gegen Gewalt gegen Frauen und Maedchen und Gewalt in der Familie berichten.
Sie erinnern sich vielleicht: Im Juni 2017 hat SEKA mit einem speziellen Projekt begonnen: der Realisierung der Istanbuler Konvention des Europarats „zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ auf dem Gebiet des Kantons Goražde. (Wir haben darüber in früheren Blogs kurz berichtet.)
Das intensive Engagement des SEKA-Teams für dieses Projekt  beginnt sich inzwischen auszuzahlen. Über die Notwendigkeit für dieses Projekt, die bisherigen Aktivitäten, Schwierigkeiten und die bis jetzt wichtigsten Erfolge sprach Gabriele Müller mit Esma Drkenda, der Vorsitzenden der Frauenorganisation SEKA Goražde und Koordinatorin des Projekts.

Was hat das SEKA-Team dazu bewegt – neben der traumatherapeutischen Arbeit und all den anderen Aufgaben – gerade den Focus auf dieses Thema zu legen? Ist es nicht eigentlich Aufgabe des Staates Bosnien-Herzegowina, nach der Ratifizierung der Istanbuler Konvention auch für deren Realisierung und die Durchsetzung ihrer Standards auf allen Ebenen zu sorgen? 

Esma Drkenda (E.D.): In den vergangenen Jahren haben sich immer mehr Frauen um Hilfe an SEKA gewandt, die Gewalt in ihrer Familie erlebten. Und wir mussten immer wieder die Erfahrung machen, wie unzureichend die staatlichen Schutz- und Hilfsangebote sind, bzw. dass diese gar nicht existieren.
Für viele Betroffene bedeutete das, dass sie früher oder später wieder zum Misshandler zurückkehren mussten, oder es gar nicht wagten sich zu trennen, da sie für sich keine Perspektive (z.B. eigenes Einkommen oder Wohnung) hatten.
In Bosnien-Herzegowina gibt es zum Beispiel kein geregeltes System der Sozialhilfe oder der Vergabe von Sozialwohnungen. Obwohl der Staat Bosnien-Herzegowina 2013 die Istanbuler Konvention unterschrieben hat und der Kanton Goražde auch auf lokaler Ebene ein "Protokoll zur Vorgehensweise der zuständigen Institutionen und Organisationen in Fällen von Gewalt in der Familie im Kanton Goražde" erarbeitet und unterschrieben hat, hatte sich bis Ende 2016 die Situation nicht verbessert.
Bosnien-Herzegowina hat (unter Druck der EU) eine ganze Reihe von Konventionen unterschrieben, aber bzgl. deren Umsetzung ist bisher wenig passiert. Für das SEKA-Team bedeutete das, dass sich unsere Möglichkeiten darauf beschränkten, die von Gewalt betroffenen Frauen psychologisch zu stärken und zu stabilisieren, dass wir daran arbeiteten, wie sie sich gegenüber dem Misshandler besser schützen könnten; wir unterstützten sie, wenn sie bereit waren, die Gewalterfahrung bei den Sozialen Diensten und / oder der Polizei anzuzeigen. Aber wir konnten ihnen oft nicht helfen, eine echte Perspektive zu finden, wenn sie keine Unterstützung von ihrer Ursprungsfamilie oder kein eigenes Einkommen hatten und keine getrennte Wohnung finden konnten.
Das war schlimm für die Frauen und für uns als SEKA-Team sehr frustrierend. Dazu kommt, dass viele Frauen, die sich entschieden haben, Anzeige zu erstatten, oft schlechte Erfahrungen mit Polizei und MitarbeiterInnen der Sozialen Dienste oder auch der Stadtverwaltung gemacht hatten. Goražde ist eine Kleinstadt in einem sehr ländlichen Umfeld, noch immer sehr traditionell und patriarchal geprägt. Auch bei Repräsentanten von Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichten und Sozialen Diensten finden sich diese Einstellungen. Sehr häufig wird die Gewalt verharmlost oder gar dem Opfer die Schuld gegeben.
Eine Frau, die z.B. in Deutschland die Möglichkeit hätte, sofort in einem Frauenhaus Schutz und Unterstützung zu finden und, wenn sie kein Einkommen hat, Sozialhilfe und nach einiger Zeit auch eine Sozialwohnung zu bekommen, ist in Bosnien-Herzegowina dazu verdammt, oft über dreißig und vierzig Jahre in der Gewaltsituation auszuharren.
Nachdem wir über all dies im SEKA-Team wieder und wieder diskutiert hatten, beschlossen wir, dass wir in dieser Sache selbst initiativ werden müssten. Ermutigt hat uns, dass es in den vergangenen zwei Jahren personelle Veränderungen im Goražder Zentrum für Sozialarbeit gegeben und sich das Team stark verjüngt hatte. Wir sahen eine gute Chance, diese jungen Kolleginnen zu sensibilisieren und fortzubilden. Im Januar 2017 wurde auch ein neuer Direktor für das Zentrum nominiert, ein junger, aufgeschlossener, engagierter Mann, der sehr an einer guten Zusammenarbeit mit SEKA interessiert war. Wir sahen eine Chance, mit vereinten Kräften für eine Veränderung der Situation zu kämpfen.
Auch das 2012 auf Kantonsebene erarbeitete "Protokoll" sahen wir als ein Chance. Es war zwar nie wirklich "zum Leben erweckt worden" und die eigentlich vorgeschriebenen regelmäßigen multidisziplinären Treffen des Koordinationsteams (VertreterInnen aller zuständigen Institutionen und Dienste) hatten nur formell stattgefunden und nichts bewirkt. Dann wurden sie gar nicht mehr einberufen. Im Grunde waren diese Treffen aber gesetzlich verpflichtend. Wir planten daher, gemeinsam mit dem neuen Direktor des Zentrums für Sozialarbeit und einer sehr engagierten Kollegin des Zentrums, dieses Koordinationsteam zu aktivieren und zur Durchsetzung der Standards der Istanbuler Konvention zu nutzen.
Es war uns klar, dass dies ein langer mühsamer Weg sein würde, der viel Energie, Zeit und Hartnäckigkeit verlangen würde. Aber wir sagten uns: "Wer, wenn nicht SEKA, soll das schaffen!" (lacht)
Meine persönliche Motivation mich zu engagieren ist meine tiefe Überzeugung, dass jeder Mensch das Recht auf ein glückliches Leben – frei von Gewalt – hat. Und das möchte ich auch für die Frauen hier in Bosnien-Herzegowina, hier im Kanton Goražde erreichen!
Ich weiß allerdings nicht, ob wir uns an dieses Unterfangen gewagt hätten ohne die tatkräftige finanzielle Unterstützung medica mondiales, die uns im Frühjahr 2017 unseren Projektantrag bewilligten. Dafür und besonders auch für die Anschlussfinanzierung ab Juli 2018 sind wir sehr dankbar! Auch SEKAs Reputation im Kanton und darüber hinaus war sicher hilfreich, weil alle, die wir bzgl. des Projekts um Unterstützung baten, SEKA als engagierte aber parteipolitisch absolut neutrale Organisation kennen.


Projekt-Koordinatorin Esma Drkenda


Kannst du kurz umreissen, welches die wichtigsten Ziele waren, die ihr durch dieses Projekt erreichen wolltet?

E.D.: Wie schon erwähnt, wollten wir zunächst das Koordinationsteam in Funktion bringen. Dieses Team, zu dessen Etablierung eigentlich die staatlichen Institutionen verpflichtet sind, wird aus VertreterInnen aller Institutionen und Organisationen gebildet, die auf dem Gebiet des Kantons Goražde mit dem Problem "Gewalt in der Familie" befasst sind: des Zentrums für Sozialarbeit, der Polizei, Staatsanwaltschaft, des Gerichts, des Zentrum für psychische Gesundheit, der kantonalen Ministerien für Soziales/Gesundheit, des Inneren und des Bildungsministeriums, der Stadtverwaltung Goražde, der Gemeinden Prača und Ustikolina und von SEKA. Inzwischen schlossen sich noch zwei weitere Organisationen dem Koordinationsteam an: das Veteranenprojekt "Svjetlost Drine" und das Projekt "Stärkung der Familie" der SOS Kinderdörfer BiH.
Durch die Aktivierung des Koordinationsteams wollten wir die Verbesserung der Zusammenarbeit aller zuständigen Institutionen im Interesse der Opfer von Gewalt erreichen. Wir wollten klare Strukturen schaffen und die unterschiedlichen Rollen definieren - für einen effektiven Schutz und eine Verbesserung der Hilfsangebote für Betroffene.
Durch multidisziplinäre Fortbildungsseminare und Supervision wollten wir die Mitarbeiter*innen der Institutionen und Organisationen für die Arbeit mit Opfern von Gewalt sensibilisieren und qualifizieren und ihnen - auch durch die Vernetzung mit den anderen Diensten - ermöglichen, leichter adäquate Hilfe zu leisten.
Durch die regelmäßigen Treffen des Koordinationsteams in einer konstruktiven und wertschätzenden Atmosphäre wollten wir die Beziehungen unter den KollegInnen, die Kommunikation und damit die Zusammenarbeit verbessern - weg von der bisherigen Ebene gegenseitiger Vorwürfe (aus Frustration, Hilflosigkeit und Überforderung) hin zu einem funktionierenden Zusammenspiel der Kräfte - wie es die Istanbuler Konvention ja vorsieht!
Außerdem wollten wir durch eine empirische Untersuchung zum Thema "Gewalt in der Familie" eine Bestandsaufnahme der Situation im Kanton Goražde von 2102 - 2017 durchführen und dies als Grundlage für die Reflektion der bisherigen Arbeit aller Institutionen und Organiationen nutzen sowie zur Erarbeitung von konkreten Vorschlägen und Forderungen an die Politik. 

Seit Beginn des Projekts im Juni 2017 sind nun etwa 16 Monate vergangen. Welche Aktivitäten konntet ihr bisher realisieren?

E.D.:
Diese 16 Monate waren eine sehr intensive und auch anstrengende Zeit! Von Juni bis Oktober 2017 führte SEKA zunächst die empirische Untersuchung durch - gemeinsam mit einer Kollegin des Zentrums für Sozialarbeit und einem Polizeioffizier. Es wurden alle registrierten Fälle von Gewalt erfasst und nach einer Vielzahl von Kriterien ausgewertet: sozialer Hintergrund von Opfer und Täter, Formen der Gewalt, involvierte Institutionen und Organisationen, Interventionen, aktuelle Lebenssituation der Opfer, hilfreiche und hemmende Faktoren und anderes mehr. Nachdem wir die gesamten Daten zusammengeführt hatten, um Doppelerfassungen zu vermeiden, wurden die Daten anonymisiert und dann von einer Soziologin ausgewertet.
Die Ergebnisse fassten wir in einer kleinen Broschüre mit dem Titel „Wenn ich gewusst hätte wohin, dann wäre ich längst weggegangen!“ zusammen und stellten sie im November 2017 dem Koordinationsteam, VertreterInnen des föderalen Gender Zentrums, der OSZE und den lokalen Medien in einer Präsentation vor.



Präsentation der Ergebnisse der Studie und der Broschüre

Die Studie stieß aufgrund ihrer Differenziertheit nach kurzer Zeit auf großes Interesse in ganz Bosnien-Herzegowina. Inzwischen wird sie sogar in anderen Kantonen als Modell für eigene Studien verwendet.
Parallel zur Studie hatten wir im Juni 2017 mit der Organisation des ersten Treffens des Koordinationsteams begonnen. Trotz zahlreicher Vorgespräche mit den verschiedenen Institutionen nahmen am ersten Treffen nur relativ wenige Vertreter*innen teil. Dies änderte sich mit der Zeit – auch durch unsere ständige intensive Lobbyarbeit mit den zuständigen Ministerien.
Bereits bei der Präsentation der Studie waren außer dem Staatsanwalt alle beteiligten Institutionen und Organisationen vertreten.
Auch die von unserer langjährigen externen Kollegin Nurka Babović geleiteten Fortbildungsseminare, die theoretische Wissensvermittlung mit Fallsupervisionen und soziodramatischen Inszenierungen verknüpften, stießen auf sehr großes Interesse bei den Teilnehmer*innen. Die insgesamt drei jeweils dreitägigen Seminare verbesserten zusätzlich die Beziehungen und die Kommunikation untereinander und erhöhten die Motivation zur aktiven Mitarbeit im Koordinationsteam.

 
Fortbildungsseminare mit Kolleg*innen aus Institutionen und Organisationen

In mehreren Koordinationstreffen diskutierten wir die Ergebnisse der Studie – durchaus auch selbstkritisch und formulierten Schlussfolgerungen sowohl für die eigene Arbeit aller beteiligten Dienste als auch in Form von Vorschlägen und Forderungen an die Politik. Ende März 2018 konfrontierten wir dann – unterstützt vom Gender Zentrum und der OSZE – in einem "Runden Tisch" Regierungsvertreter*innen, ausgewählte Abgeordnete des kantonalen Parlaments und des Stadtrats Goražde sowie die Direktor*innen wichtiger Institutionen mit unseren Forderungen. Vom Premier wurde uns damals versichert, dass er alle unsere Forderungen als berechtigt ansehe und sich dafür einsetzen werde, dass sie schrittweise umgesetzt werden würden. Diese Aussage müssen wir aber erst mal mit einiger Skepsis betrachten, da der Premier stark von seinen häufig unberechenbaren Koalitionspartnern abhängt und ohnehin jetzt im Herbst das Kantonsparlament neu gewählt wird.



Diskussion am Runden Tisch mit Regierungsvertretern

Welche Forderungen habt ihr denn an die Politik gerichtet? Kannst du ein paar Beispiele nennen?

E.D.: Wir forderten von Kanton und Stadt die Einrichtung von zwei Schutzwohnungen für Opfer häuslicher Gewalt, die diesen Namen auch verdienen. Sie müssen sich an sicheren und gleichzeitig unauffälligen Orten befinden und angemessen eingerichtet sein. Die bisher von der Stadt Goražde zur Verfügung gestellte 1,5-Zimmer-Wohnung befindet sich in einem Sozialen Brennpunkt in einem desolaten Gebäude, ist viel zu klein und völlig unzureichend ausgestattet. Außerdem verlangten wir ein Notbudget für die Mitarbeiterinnen der Sozialen Dienste für den Fall, dass eine Frau mit ihren Kindern nachts oder am Wochenende in Sicherheit gebracht werden muss. Bisher haben die Mitarbeiterinnen dann oft die nötigsten Lebensmittel, Hygieneartikel und Ähnliches aus eigener Tasche bezahlt!
Wir forderten, dass Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte neben dem Strafrecht auch das Gesetz zum Schutz für die Opfer von Gewalt anwenden (z.B. ein Kontaktverbot für den Täter oder die Entfernung des Täters aus der Wohnung). Dies ist in fünf Jahren nur ein einziges Mal geschehen, obwohl es in diesem Zeitraum im Bereich des Kantons Goražde 412 registrierte Fälle von Gewalt gab. Eine weitere Forderung bezog sich auf angemessene räumliche und personelle Bedingungen für die Mitarbeiter*innen der Sozialen Dienste und der Polizei für Beratungsgespräche oder Zeugenanhörung von Gewaltbetroffenen.
Wir forderten auch, dass Opfer von Gewalt ohne eigenes Einkommen sozialhilfe- und sozialwohnungsberechtigt sein müssen. Durch Förderprogramme des Arbeitsamts sollten sie leichter einen Arbeitsplatz finden können, da sie ohne solche Hilfen nur schwer eine eigene unabhängige Lebensperspektive entwickeln können.

Welche Schwierigkeiten gab es denn bei der Realisierung des Projekts? 

E.D.: Noch vor Beginn des Projekts im Juni zerbrach die Koalition der Kantonsregierung. Eine neue Partei trat in die Regierung ein und versuchte nun, mit aller Macht ihre Interessen durchzusetzen – über das Sozialministerium, das ihnen nun zufiel. Da der neue Direktor des Zentrums für Sozialarbeit sich nicht manipulieren liess, entließen sie ihn und installierten eine neue Direktorin, die sie als willfährig einschätzten. Dies warf die Vorbereitungen für unser Projekt stark zurück.
Durch intensive Gespräche konnten wir dann jedoch auch die neue Sozialministerin und die Direktorin überzeugen, das Projekt zu unterstützen – oder seine Durchführung zumindest nicht zu behindern. Im Laufe der Monate konnten wir die (zuvor eher unerfahrene) Direktorin für das Projekt begeistern. Inzwischen spielt sie bei der Lobbyarbeit eine wichtige Rolle.
Ein anderes Problem waren Widerstände bzgl. des Projekts auf der mittleren Leitungsebene der Polizei. Schon in der Vorbereitungsphase hatten wir zwar die Unterstützung des Innenministers, des Polizeidirektors und eines erfahrenen Kollegen (der inzwischen aber zur Kriminalpolizei gewechselt war) gewonnen. Rasch zeigte sich jedoch, dass der Kommandant der Polizeistation, dem das Team fuer häusliche Gewalt direkt unterstand, immer wieder die Teilnahme der Kollegen an den Koordinationstreffen oder an den Seminaren verhinderte und sich auch oft sehr unangemessen gegenüber Mitarbeiterinnen der Sozialen Dienste oder auch betroffenen Frauen verhielt. Auch hier versuchten wir, in wiederholten Gespraechen eine Loesung zu finden.
Die Untätigkeit der Polizei in vielen Fällen von Gewalt hing auch mit Desinteresse bzw. Abwehr gegenüber dem Thema bei der Staatsamnwaltschaft und einigen Richtern zusammen. Die zuständigen Polizisten fragten in allen Fällen beim Staatsanwalt nach, welche Maßnahmen zu ergreifen waren. Dieser lehnte Maßnahmen ab und dadurch blieben die Polizeikollegen ebenfalls untätig. Dieses Verhalten führte seit Jahren zu Konflikten zwischen den Sozialen Diensten oder dem Zentrum für Psychische Gesundheit und der Polizei und Staatsanwaltschaft, da die gesetzlichen Möglichkeiten bzgl. Opferschutz und Strafverfolgung überhaupt nicht angewandt wurden.
Eine weitere Herausforderung war für uns auch die anfängliche Passivität und Skepsis bei vielen Teilnehmer*innen des Koordinationsteams. Viele Kolleginnen, die direkt mit Opfern von Gewalt arbeiteten, waren außerordentlich frustriert durch die bisherigen Erfahrungen insbesondere mit Polizei, Staatsanwaltschaft, aber auch aufgrund der fehlenden Perspektiven für die Betroffenen. Sie glaubten nicht, dass wir durch das Projekt etwas verändern könnten.
Während der ersten Koordinations-Treffen gaben wir daher Raum, diese Frustrationen und Erfahrungen auszudrücken. Andere verhielten sich eher passiv, da sie fürchteten, sich vielleicht „zu sehr aus dem Fenster zu hängen“ und dann berufliche Schwierigkeiten zu bekommen. Viele waren auch zu wenig über das Thema informiert. Dem begegneten wir durch intensive Gespräche, in denen es uns gelang, „alle mit ins Boot zu holen“ – deutlich zu machen, dass wir, wenn wir als Koordinations-Team gut zusammenarbeiten, viel verändern können; dass wir dazu aber Entschiedenheit, Mut und „einen langen Atem“ benötigten.
 
 
Soziodrama waehrend eines Seminars

Und wie sieht es nun nach 16 Monaten aus? Gibt es denn bereits Veränderungen und Erfolge?

E.D.: Die gibt es allerdings – mehr als wir in dieser kurzen Zeit gerechnet hatten: Die Intensive Lobbyarbeit: Telefonate, Gespräche, Treffen auf allen Ebenen (Ministerien, Behördenleitungen, Politiker*innen aller Parteien), die Koordinationstreffen, thematische Treffen, der Runde Tisch und die Seminare haben das Bewußtsein bzgl. des Problems „Gewalt in der Familie“ in allen beteiligten Institutionen und Organisationen verändert. Das zeigt sich nun im Umgang mit konkreten Fällen:
Der Polizeidirektor hat uns zugesagt, dass für Zeugenbefragungen von Opfern ein separater Raum genutzt werden wird und dass neben den männlichen Kollegen eine Polizeibeamtin für sensible Gespräche mit den Betroffenen zur Verfügung stehen wird. Der Polizeidirektor hat auch unseren Vorschlag aufgegriffen, bei der anstehenden Restrukturierung der Polizeibehörde die Bereiche ‚Gewalt in der Familie‘, ‚Sexualisierte Gewalt‘ und ‚Jugendkriminalität‘ zusammenzufassen und bei der Kriminalpolizei anzusiedeln. Im damit beauftragten Team von vier Kolleg*innen sollen (wie von uns angeregt) mindestens eine weibliche Beamtin und ein*e Psycholog*in arbeiten. Dieses Team würde ständig fortgebildet und wäre nicht mehr den bisherigen Personalfluktuationen unterworfen, die die Arbeit im derzeitigen Team massiv erschweren. Das wäre ein großer Fortschritt im Sinne der Betroffenen aber auch für die Zusammenarbeit. Inzwischen nehmen auch die Kollegen der Polizei regelmäßig an den Koordinationstreffen und den Seminaren teil.
Nach verschiedenen Gesprächen mit Staatsanwaltschaft und Gericht u.a. mit dem Gerichtspräsidenten hat sich die Situation auch hier völlig verändert: In den letzten acht Wochen sind bereits sechs Maßnahmen zum Opferschutz erlassen worden: in den meisten Fällen wurde ein Kontaktverbot für den Täter erlassen. In einem Fall wurde der Täter der Wohnung verwiesen. Gleichzeitig wurden von den Sozialen Diensten und dem Zentrum für Psychische Gesundheit in jedem Fall Pläne erstellt für die weitere regelmäßige Arbeit mit dem Täter einerseits und mit der betroffenen Frau und den Kindern andererseits. Bzgl. therapeutischer Angebote wurden die betroffenen Frauen auch an SEKA verwiesen.
Ein weiterer großer Erfolg ist, dass das Kantonsparlament beschlossen hat, im Jahr 2019 eine geeignete Wohnung als Schutzwohnung zur Verfügung zu stellen. Nach einer Präsentation zum Thema ‚Gewalt in der Familie‘ und zur Arbeit des Koordinations-Teams beschloss auch der Stadtrat von Goražde fast einstimmig, dass die Stadtverwaltung eine zweite geeignete Wohnung als Schutzwohnung zur Verfügung stellen würde. Das wäre noch ein halbes Jahr zuvor undenkbar gewesen!
Hier hat sich unsere unermüdliche und oft mühsame Lobbyarbeit mit VertreterInnen aller Parteien ausgezahlt. Wir konnten damit das übliche Blockademuster verhindern, dass Parteien aus Prinzip gegen einen Vorschlag stimmen, nur weil andere dafür stimmen.
Durch unsere Lobbyarbeit konnten wir sogar bewirken, dass die seit zwei Jahren von bestimmten Parteien blockierte Gleichstellungskommission des Stadtrats endlich zu arbeiten beginnt und sich als aktuelles Thema die Durchsetzung der Istanbuler Konvention gewählt hat.
Und als eines der wichtigsten Ergebnisse ist das Koordinations-Team zu einem richtig aktiven Gremium geworden, in dem offen, ehrlich und selbstkritisch diskutiert und strukturiert und effektiv gearbeitet wird. Die Erfahrung, dass wir gemeinsam etwas verändern können, hat allen Mut gemacht; dadurch und durch die gemeinsamen Seminare hat sich die Zusammenarbeit außerordentlich verbessert und erleichtert. Dies kommt nun den betroffenen Frauen und Kindern zugute.



Diskussion im Koordinationsteam

Besonders freut mich, dass sich ein Richter, mit dem wir große Schwierigkeiten hatten, nun als einer der ersten Teilnehmer*innen zum nächsten Fortbildungsseminar angemeldet hat!
Natürlich haben wir noch einige dicke Brocken vor uns: existentielle Finanzhilfen (Sozialhilfe) müssen im Budget vorgesehen werden, der geringe Bestand an Sozialwohnungen muss durch Neubau erhöht werden. Auch ein neues Gebäude für die Sozialen Dienste soll gebaut werden...
Wir dürfen uns nun nicht mit dem bisher Erreichten zufriedengeben, auch die Arbeit mit Tätern und die Prävention müssen wir intensivieren. Aber wenn ich mich an den Stand vor 16 Monaten erinnere, dann bin ich einfach sehr stolz auf unser Team, das dieses Projekt angestoßen und bisher den größten Teil der Anstrengungen unternommen hat.
Ich wünsche mir, dass der Tag kommt – auch hier im Kanton – an dem keine Frau und kein Kind mehr Gewalt und Terror in der Familie ertragen müssen, weil sie wissen, dass es für sie Schutz, Hilfe und eine Perspektive für ein Leben ohne Gewalt gibt! 

Danke, Esma, für dieses Gespräch! 

Bitte helfen Sie uns bei der Finanzierung der therapeutischen Angebote fuer Gewaltopfer!