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Die Coronakrise als Trigger zur Retraumatisierung

G. Müller
G. Müller schrieb am 25.03.2020

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe LeserInnen,

ich hoffe sehr, dass dieser Newsletter sie bei guter Gesundheit erreicht! 
Leider ist dies ja zur Zeit alles andere als selbstverstaendlich.
Die Krise um das Corona-Virus hat uns alle mehr oder weniger aus unserem gewohnten Leben katapultiert und uns in den Ausnahmezustand versetzt. 
Nichts ist wie zuvor. Wenn ich die aktuellen Nachrichten und Bekanntmachungen lese, komme ich mir immer wieder vor wie in einem Katastrophenfilm - und ich wuerde so gerne einfach aus dem Kino gehen, oder das Fernsehprogramm wechseln. Die globale Wirklichkeit uebertrifft leider inzwischen bereits die ausgedachten Szenarien. Und ich glaube, wir machen uns alle grosse Sorgen darum, wie sich diese Pandemie in Deutschland und weltweit weiterentwickeln wird, welche vermutlich sehr tiefreichenden und langfristigen Folgen sie auf vielen Ebenen haben wird.
Ich hoffe, Sie haben trotz allem noch etwas Kapazitaet, diesen Newsletter zu lesen. Wir wuerden uns darueber sehr freuen.

Das Corona-Virus ist inzwischen natuerlich auch in Bosnien-Herzegowina angekommen. Da zunaechst kaum getestet wurde, waren die Zahlen der Infizierten noch gering. Innerhalb der letzten zwei Wochen wuchsen sie allerdings (wie wir das ja auch in Deutschland erlebt haben) exponentiell (auf heute 168 Infizierte) und es gibt inzwischen auch die ersten drei Todesfaelle. 
Dabei muessen wir uns bewusst sein, dass schon ohne Corona-Krise das Gesundheitswesen in Bosnien-Herzegowina in einem schlechten Zustand ist. Es fehlt an fast allem. Zusaetzlich verliess in den letzten Jahren eine grosse Zahl gut ausgebildeter und erfahrener Fachkraefte aus den medizinischen Berufen (Aerzt*innen und ganz besonders Krankenschwestern/-pfleger) das Land, um unter anderem in Deutschland zu arbeiten. 

In der gegenwaertigen Situation bedeutet dies, dass das bosnisch-herzegowinische Gesundheitssystem von einer grossen Zahl schwerkranker Corona-Patient*innen heillos ueberfordert waere - und ganz einfach aber dramatisch sehr viele Menschen an dem Virus sterben wuerden - auch weil der Gesundheitszustand eines grossen Teils der Bevoelkerung aufgrund der psychischen und gesundheitlichen Folgen des Krieges und der Traumatisierung stark beeintraechtigt ist.

Vermutlich im Bewusstsein dieser schwierigen Bedingungen entschieden sich die Regierungen der kroatisch-bosniakischen Foederation Bosnien-Herzegowina und der Republika Srpska - gemeinsam mit der Staatsregierung - fuer gemeinsame einschneidende Massnahmen: Ab dem 10. Maerz wurden die Schulen und Kindergaerten geschlossen, ab dem 16. Maerz wurden weitreichende Massnahmen beschlossen - aehnlich der Massnahmen, die seit dem 23. Maerz nun auch in Deutschland gelten - mit einer zusaetzlichen Ausgangssperre fuer Menschen ueber 65 Jahren und Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, sowie einer generellen Ausgangssperre fuer alle (ausser Angehoerigen der Gesundheitsinstitutionen, der Polizei, Feuerwehr u.ae.) von 18 Uhr bis 5 Uhr in der Frueh. Auf diese Weise hofft man, die rapide Ausbreitung des Virus noch rechtzeitig zu stoppen. 

SEKA hat bereits am 12. Maerz die Arbeit mit Frauen und Kindern im SEKA-Haus eingestellt, um zu verhindern, dass Klientinnen oder Kinder / Jugendliche sich untereinander infizieren (es muss von einer hohen Dunkelziffer von Infizierten ausgegangen werden, da in Goražde eine Firma mit mehreren Hundert Beschaeftigten aufgrund mehrere Coronafaelle schliessen musste und diese Familien nun in haeuslicher Isolation sind, es aber unklar ist, mit wem sie alles in den Tagen zuvor Kontakt hatten).

Fuer viele Menschen in Goražde, die Krieg, Terror und Grausamkeiten erlebt haben und vielfach noch heute unter Traumata leiden beinhaltet die gegenwaertige Situation vielfache Trigger und kann leicht zu einer Retraumatisierung fuehren. Bereits nach zwei Wochen gibt es deutliche Engpaesse bei der Lebensmittelversorgung (es gibt z.B. kaum mehr Mehl, Obst hat sich im Preis vervielfacht, viele Menschen koennen sich bestimmte Lebensmittel nicht mehr leisten). 
Viele Menschen, die sich schon bisher nur muehsam mit dem Verkauf von Obst, Gemuese, Kleinwaren, Kleidung oder mit Gelegenheitsjobs eine Existenz sicherten, haben nun keinerlei Einkommen mehr (da auch kleinere Geschaefte und die Wochenmaerkte geschlossen wurden).  Dies erinnert stark an die Zeit kurz vor dem Krieg oder waehrend des Krieges. Auch die allgemeine Atmosphaere in der Stadt, die gepraegt ist von dem Gefuehl der Ungewissheit was die Zukunft bringt, von der Angst, dass etwas Schlimmes geschieht, der Hilflosigkeit, von Verschwoerungstheorien, die verbreitet werden, all dies erinnert an die Zeit vor dem Krieg. 
Auch die Verpflichtung, in den Wohnungen zu bleiben, wo die Menschen in Bosnien-Herzegowina meist sehr viel enger zusammenleben und sich dadurch natuerlich noch mehr Konfliktpotential entwickelt als in groesseren Wohnungen, erinnert an die dreieinhalb Jahre des Krieges, wo es wegen der Heckenschuetzen und des fortgesetzten Granatenbeschusses lebensgefaehrlich war, am Tag die Wohnung zu verlassen. All dies belastet die Menschen in Goražde zusaetzlich. Viele reagieren mit Panikzustaenden, mit Depressionen, mit Anspannung oder aggressivem Verhalten. In manchen Familien, in denen es schon bisher Konflikte gab, eskaliert diese Situation zu gewalttaetigem Verhalten. Opfer sind ueberwiegend Frauen und Kinder.

In dieser Situation hat das SEKA-Team entschieden, auch wenn die direkten therapeutischen Angebote bis auf Weiteres ausgesetzt werden muessen, nach vielfaeltigen Wegen zu suchen, wie sowohl die bisherigen Klientinnen und Klienten weiter unterstuetzt werden koennen, als auch, welche Angebote SEKA unter Nutzung von Telefon und elektronischen Medien der gesamten Bevoelkerung des Kantons und der Stadt Goražde machen kann:

- SEKA-Therapeutin Arijana Ćatović bietet daher weiter regelmaessig fuer die SEKA-Klientinnen einzeltherapeutische Termine per Skype an. Fuer Klientinnen, die weder PC noch Smartphone haben bietet sie Telefonberatung.
- Die Therapeutinnen Gordana Šapčanin und Irena Đumić  halten ebenfalls ueber Skype oder per Telefon Kontakt zu den Teilnehmerinnen der Therapiegruppen und stehen auch fuer Kriseninterventionen zur Verfuegung.
- Auf der SEKA-Facebook-Seite gibt das SEKA-Team taeglich Informationen zur aktuellen Situation sowie Anregungen zu Moeglichkeiten der Hilfe und Selbsthilfe. Ueber die Facebook-Seite, wie auch ueber e-mail und per Telefon koennen sich Menschen in Not- und Krisensituationen oder mit aktuellen Problemen taeglich zwischen 10 und 18 Uhr an die Kolleginnen wenden. Sie erhalten direkte Unterstuetzung oder es wird der Kontakt zu einer der Therapeutinnen oder notwendigen Institutionen hergestellt.
Dies gilt insbesondere auch fuer Opfer haeuslicher Gewalt.
- Ueber die SEKA-Facebookseite hat SEKA-Kindertherapeutin Amina Sarajlić gemeinsam mit Volontaerin Anisa Medošević eine spezielle "Unterseite" (Gruppe) fuer die Kinder und Jugendlichen des Kantons und der Stadt Goražde und deren Eltern eingerichtet. Hier bekommen die Kinder taeglich neue kindgerechte Informationen ueber die aktuelle Situation und ueber damit verbundene Themen (Aengste, Traurigkeit, Warum ist es so wichtig, sich an die Regeln zu halten? Wie koennen wir mithelfen, diese Situation gut zu bewaeltigen? Was hilft uns dabei?  u.ae.). Amina gibt Anregungen wie Kinder und Eltern die Zeit zu Hause sinnvoll nutzen und Spass haben koennen; es werden Wettbewerbe organisiert und vielerlei kreatives Tun angeregt. 
Gleichzeitig haben auch hier Kinder und Jugendliche wie auch Eltern die Moeglichkeit, Amina zu kontaktieren, um Rat zu bitten - ueber die elektronischen Medien wie auch per Telefon. Bei Bedarf werden Skype-Termine vereinbart.
Diese Angebote werden bisher sehr gut angenommen.

Soviel erstmal fuer heute... Bitte bleiben Sie auch in diesen schwierigen Zeiten an unserer Seite! Das bedeutet uns sehr viel!
Wir wuenschen Ihnen und Ihren Lieben alles alles Gute! Passen Sie auf sich auf!
Und bleiben Sie gesund!

Mit sehr herzlichen Gruessen

Gabriele Mueller, Esma Drkenda, Amina Sarajlić, Arijana Ćatović, Vera Dacić, Irena Đumić, Gordana Šapčanin und Anisa Medošević




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