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Jahresrückblick der AWO-Bosnienhilfe 2020

Ulrike Blatter
Ulrike Blatter schrieb am 19.01.2021

Liebe Spenderinnen und Spender!

Verunsicherung – Hoffnung – tiefe Dankbarkeit: das sind die drei Eckpunkte, dieses Rückblicks auf ein außergewöhnliches Jahr.

Verunsicherung: 

Am 1. Januar um 00:01 Uhr wünschten wir uns gegenseitig gutgelaunt Glück und Gesundheit. Wie existenziell diese beiden Wünsche in den nächsten Monaten werden sollten, ahnten wir nicht. Schon damals hatten vermutlich nur wenige Menschen das Thema „Bosnien“ auf dem Radar – das Land, in dem wir uns seit zwei Jahrzehnten um diejenigen kümmern, deren leise Stimmen auch im „Normalbetrieb“ des Weltgetöses untergehen. Und dann hatten wir alle erst einmal genug mit uns selbst zu tun. Das ganze Leben wurde auf den Kopf gestellt: Erwachsene Kinder zogen wieder bei den Eltern ein, Zwangswohngemeinschaften organisierten sich mit Homeoffice und Homeschooling, es wurden Vorräte angelegt, alte Menschen und Freunde in Quarantäne mussten versorgt werden. Sorgen wegen faktischem Berufsverbot und Kurzarbeit kamen hinzu. Und später auch die Sorge um Erkrankte und die Trauer um Verstorbene.

Hoffnung:

Aber ging es uns in Deutschland und der Schweiz (wo die meisten unserer treuen SpenderInnen leben) trotz allem nicht vergleichsweise gut? Nach dem ersten Schock wurde auch der Blick über den Tellerrand wieder möglich und wir fragten uns, wie es wohl in Bosnien weitergeht – wo Kinder, Jugendliche und SeniorInnen wochenlang das Haus nicht verlassen durften. Unsere Mentoren-programme für Kinder und Jugendliche in Risikosituationen sind auf Begegnung, Beziehung und Gemeinschaft angelegt. Die harten Kontaktbeschränkungen haben sie im Kern getroffen. Projekt-leiterInnen und Freiwillige nutzten ihre ganze Kreativität, um die „jüngeren Schwestern und Brüder“ zu stützen. Ich zitiere hier im O-Ton aus den Berichten, die mich erreichten. Grundlegendes sagt Nerma, die als festangestellte Projektleiterin viele unserer Aktivitäten koordiniert: „Ich war erstaunt, wie schnell wir uns im Projektleitungsteam an die neuen Umstände angepasst und gleichzeitig an unseren Werten festhalten konnten: Gegenseitiger Respekt für Erfahrungen und Wissen, Gelassenheit und Mitgefühl. Daraus entstand eine Atmosphäre von gemeinsamer Begeisterung und Kreativität, die uns geholfen hat, gute Lösungen zu finden.“



Ältere Schwester, älterer Bruder Programm– es berichtet Edina (22 Jahre, Freiwillige):

Im ersten, sehr harten Lockdown erlebte ich, wie die Solidarität mit besonders verletzlichen Menschen auf der ganzen Welt und auch bei uns wuchs. Die Beratungsgruppen trafen sich online. Einige von uns haben diese Gespräche über unsere Unsicherheiten und Ängste gerettet. Im Mai entwickelten wir zusätzlich online-Spiele und -Workshops mit den Kindern. Als die Programmleiterin mitteilte, dass wir uns im Juni in kleinen Gruppen mit den Kindern unter Einhaltung der AHA-Regeln treffen könnten, gab es bei einigen von uns Freudetränen.Mit einer anderen Studentin und unseren zwei „jüngeren Schwestern“, beide 14 Jahre alt, bekamen wir die Aufgabe, einen Ausflug auf den Trebevic, den Hausberg Sarajevos zu organisieren und bei der Rückkehr eine gemeinsame Geschichte auszudenken. Am Nachmittag trafen wir uns mit anderen Gruppen zum Picknick in der Stadt und später stellten alle ihre Geschichten vor. Unserer hatten wir den Titel gegeben: „Wolkenweg in ein anderes Universum“– in eine Welt, in der Kinder und Jugendliche im Mittelpunkt stehen. 



Mentorenprojekt „Geben wir ihnen Zeit statt Geld“– es berichtet Ramiza (23, Studentin der Psychologie):

Als im März die Corona-Krise ausbrach, dachte ich, dass wir nun alles abbrechen müssten, denn Kinder durften von März bis Juni nicht aus dem Haus, und wir konnten sie nicht besuchen. Viele Student/innen kehrten nach Hause zurück. Gemeinsame Online-Aktivitäten mit den Kindern auszudenken, war sehr herausfordernd. Ihre technischen Voraussetzungen waren schlecht: keine leistungsfähigen Handys, Laptops oder Computer, kein Internet. Mit der Zeit gelang es uns aber die meisten Kinder zu erreichen. Wir realisierten einfache Spiele wie Pantomime, Denksport, Quiz usw. Die vollkommen überraschten Gesichter der Kinder, wenn wir uns als Gruppe sehen, hören und miteinander spielen konnten, bleiben unvergesslich. In den Sommer- und Herbstmonaten organisierten wir Begegnungsmöglichkeiten in kleinen Gruppen; v.a. Ausflüge in die Stadt. Für viele Kinder war es wichtig mit den Freiwilligen zu reden und sich zu vergewissern, dass wir weiterhin für sie da sind.




Starke Familien – starke Kinder– es berichten die Projektleiterinnen Alma, Nerma und Melvisa: Dieses neue Projekt wird von der norwegischen Botschaft finanziert. Es handelt sich um ein wissen-schaftlich erprobtes Präventionsprojekt, das wir für unseren Kulturkreis angepasst haben. Es war vorgesehen, 48 sozial und materiell bedrängte Familien, 28 Fachkräfte der staatlichen Sozialhilfe, Freiwillige und Kinder unserer Mentorenprojekte durch Trainings und eine gemeinsame Abschluss-konferenz weiterzubilden. Leider mussten alle Trainings mit Erwachsenen online abgehalten werden. Anhand von kleinen Filmen kamen die Eltern ins Gespräch. Lehrpersonen, Sozialarbeiter/innen sowie Erzieher/innen im Kinderheim trainierten einen Erziehungsstil, durch den sich Kinder und Jugendliche geachtet und wichtig erfahren. Mit Kindern führten wir in den Sommerferien reale Workshops durch, die von Freiwilligen mitgestaltet wurden. Jugendgruppen erarbeiteten spielerisch Lösungen, wie sie gute Beziehungen zu ihren Eltern aufbauen können.




Ein verbesserter politischer Rahmen für die soziale Integration von ausgegrenzten Kindern Es berichten Amir, Direktor von NARKO-NE und Alma, Projektleiterin:  An diesem Projekt arbeiten wir schon zwei Jahre. Wir nutzten die Zeit während der Pandemie, bei allen Vorständen der Regierungsparteien im Kanton Sarajevo vorzusprechen. Wir wollten sie überzeugen, das Mentorenprogramm Ältere Schwester, älterer Bruder als reguläre Maßnahme der staatlichen Sozialhilfe einzuführen. Eine entsprechende Gesetzesanpassung hätte die Finanzierung durch den Kanton zur Folge. Die politische Instabilität – zurzeit ist in Sarajevo die dritte Regierungsumbildung in zwei Jahren im Gange – und die Pandemie haben uns gebremst. Wir hoffen, dass die neue Koalition die Mitfinanzierung ermöglichen wird.[1]Eine öffentliche Diskussion im Oktober zeigte, dass diese Anliegen breit unterstützt werden. Im Juni haben wir das neue Logo von NARKO-NE vorgestellt, eine noch umhüllte Knospe, aus der die Blütenblätter zur Entfaltung drängen. Es ist ein Symbol für Kraft, Wachstum, Gesundheit, Jugend und Zukunft, für das Wesen unserer Organisation und ihres Weges. Es macht den verschiedenen Menschen und Organisationen, die mit uns verbunden sind, Mut, gemeinsam neue Wege zu wagen. 




Dankbarkeit: 

Es war wunderbar zu sehen und zu hören, wie die Arbeit voranging. Aber viele Maßnahmen fanden unter erschwerten Bedingungen statt und kosteten außerdem mehr Geld als üblich. Hinzu kam die Versorgung besonders bedürftiger Familien mit Notfallpaketen. Aber wie konnten wir uns einbringen? Unsere alljährliche #HolidayChallenge – die abenteuerliche Fahrradreise durch Osteuropa wurde dieses Jahr durch Corona ausgebremst. Aber diese Aktion war immer unsere wichtigster Spendenanlass, um auf die Projektarbeit aufmerksam zu machen. Was tun? Ulrike entschloss sich am 1. September – am ersten Schultag in Bosnien – einen Megamarsch durch die Bodenseeregion und den Hegau zu wagen[2]. Statt der geplanten 24 Stunden wurden es „nur“ 20, aber neue Sponsoren konnten hinzugewonnen werden und alte SpenderInnen blieben uns treu. Wir wissen, dass viele Menschen, die unserer Arbeit verbunden sind, in diesem Pandemiejahr selbst in finanziellen Schwierigkeiten steckten. Manch einer entschuldigte sich, dass es diesmal „nur“ ein Bruchteil der üblichen Spendensumme geworden ist -aber erstaunlicherweise konnten wir in diesem außergewöhnlichen Jahr die Spendeneinnahmen stabil halten und werden im März 2021 wieder 5.000 € überweisen können. Dass dies möglich ist, verdanken wir vielen Menschen, die uns vertrauen, die seit vielen Jahren solidarisch sind mit den Kindern und jungen Menschen in Bosnien. Unsere Arbeit ist ein Marathon – aber allmählich trägt sie auch gesellschaftliche Früchte. Wir werden nie vergessen, wie wir vor mehr als 20 Jahren die ersten Ideen für die Projektarbeit zusammentrugen. Wie wir oft scheiterten, verzweifelten und uns dann wieder gegenseitig Mut machten. An diesen Projekten wird mir immer wieder klar, wie schnell gesellschaftliche Strukturen zerstört werden und wie schwer der Wiederaufbau ist. In diesem Pandemiejahr war ich oft froh um die Erfahrung der stoischen Gelassenheit, den Pragmatismus und die Herzenswärme der Menschen in Bosnien, die ich über die Jahre intensiv kennenlernen durfte. Es hat mir in den letzten Monaten oft geholfen die gute Laune zu behalten und die Hoffnung nie aufzugeben.

Wir planen auch 2021 eine Aktion, in die wir Sponsoren mit einbinden können. Bei Interesse melden Sie sich bitte per Mail: ulrikeblatter@aol.com

Im Namen des gesamten Teams danke ich allen, die unsere Arbeit unterstützen und wünsche ein gesundes und inspirierendes 2021!

Ulrike Blatter




[1] Der spannende Bericht dieser Wanderung findet sich unter folgendem Link: https://ulrikeblatterblog.wordpress.com/2020/09/05/so-weit-die-fuse-tragen-holidaychallenge2020-zwischen-hegau-und-bodensee/

[2] Bei den Kommunalwahlen im November 2020 mussten die nationalistischen Parteien empfindliche Verluste einstecken. Eine Vierer-Koalition nicht-nationalistischer Parteien konnte sich vor allem in Sarajevo durchsetzen. Immer mehr – v.a. junge – Menschen haben die Nase voll von Korruption und Vetternwirtschaft. 
 
 



Ein ganz besonderer Jahresrückblick