Mehr als 800.000 Euro! Was hat diese Spendenkampagne so erfolgreich gemacht?

Daniela Antons
29.06.2023

Alternativtext



Die Kampagne „Wie Viel Macht 1 EURO” hat in kurzer Zeit über 800.000 Euro gesammelt. Ich habe mir angesehen, was sie so erfolgreich gemacht hat. Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung, hat mir im Interview zusätzliche Einblicke hinter die Kulissen gegeben. Die Kampagne zeigt die immense Wirkung von Content Creator*innen mit Haltung, die sich zusammentun, um einen Unterschied zu machen. Aber hinter dem Erfolg steckt mehr als das!​​

Die Crowdfunding-Kampagne wurde gestartet, weil Rammstein-Sänger Till Lindemann auf die aktuellen Vorwürfe sexualisierter Gewalt hin nun teure Star-Anwälte der Kanzlei Schertz Bergmann Rechtsanwälte beauftragt hat. Mehr und mehr Frauen, die sich öffentlich äußern, Gewalt erfahren zu haben, erhalten nun Unterlassungsaufforderungen, die sie einschüchtern und zum Schweigen bringen sollen.


Campaigning-Handwerk, Storytelling und textliche Umsetzung

Das Storytelling der Kampagne ist eine Geschichte von David gegen Goliath, eine Geschichte, die das zutiefst menschliche Bedürfnis der Solidarität und der Gerechtigkeit widerspiegelt. Diese Geschichte lässt sich sehr leicht weiter erzählen:


„Die Betroffenen haben ‘Recht auf ihre Sicht der Dinge’, sagt Rammstein – das lässt sich leicht sagen, wenn man teure Anwälte darauf ansetzt, die Betroffenen abzumahnen. Auf dieses Machtmissverhältnis und Silencing haben Jasmina Kuhnke, Nora Tschirner, Roger Reckless und weitere Prominente keinen Bock mehr. Deshalb haben sie zusammen mit der Amadeu Antonio Stiftung einen Soli-Fonds gegründet für die Rechtskosten der Betroffenen. Schon 1 Euro kann das Machtverhältnis verändern.”

Stark!


Wirkungsvolles Campaigning- und Text-Handwerk sehen wir auch im Claim: „Wie Viel Macht 1 EURO ?” Er bringt den Impact in 4 Worten und einer Zahl leicht einprägbar auf den Punkt: Macht und Empowerment für diejenigen, die den Mut haben, zu sprechen — durch die Solidarität von vielen. Das ? fordert Leser*innen heraus: Was können wir mit einer Masse an Menschen schaffen, die alle einen Euro geben? Die Antwort kennen wir heute: mehr als 800.000 Euro.


Die Kampagne bestätigt den Grundsatz: „Keine Mobilisierung ohne Polarisierung” (Julius van de Laar). Die Spende wird zum politischen Statement gegen die Abmahnungswelle durch Rammsteins Anwaltskader.


Der Kampagnentext ist top. Der Finanzierungsbedarf und die Wirkung der Spenden sind auf einen Blick klar: Es braucht Geld für die Anwalts- und Prozesskosten der Betroffenen. Zusätzlich braucht es die Umsetzung von Schutzmaßnahmen sowie psychologischer Beratung und Therapie. Rammstein soll mit dem Versuch, die Betroffenen zum Schweigen zu bringen, scheitern.


An dieser Stelle kurz ein Aufruf von Timo Reinfrank an die Betroffenen: „Meldet euch unter sheroes.fund@amadeu-antonio-stiftung.de, damit ihr die Unterstützung erhaltet, die euch zusteht!” 


– zurück zur Kampagne:


Ein Aufruf zur 1-Euro-Spende


Die Kampagne ist als Crowdfunding, als „Soli-Topf”, als „Klassenkasse” konzipiert und sie beweist: Auch Spendenkampagnen, die nach wenig fragen, können große Spendensummen generieren. Und ein Blick auf die Spenden zeigt: Trotz 1-Euro-Aufruf sind dennoch auch zahlreiche 50- oder 100-Euro-Spenden dabei. Es funktioniert: Wer kann, der gibt. „Aber das geht nur in der Zusammenarbeit mit Creators und Künstler*innen”, betont Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung. 

Fundraisingverantwortliche würden niemals um eine Spende von nur einem Euro bitten. Umso spannender ist es, dass Campaigningner*innen – und eben nicht Fundraiser*innen – das Kampagnenkonzept entwickelt haben. Es befindet sich an der Schnittstelle von politischer Kampagne und Fundraising. Ziel sei es gewesen, der Ohnmacht angesichts des Machtgefälles zwischen Till Lindemann und den betroffenen Frauen Community und Selbstwirksamkeit entgegenzusetzen, so Timo Reinfrank.


Rapid-Response: Antwort auf tagesaktuellen Bedarf und akutes menschliches Bedürfnis


Erfolgreiche Kampagnen geben Menschen die Möglichkeit, angesichts von Problemen und Bedarfen, die mediale Berichterstattung ihnen aktuell vor Augen führt, etwas zu tun — und das funktioniert eben nicht nur im Fall von Naturkatastrophen. Die Kampagne punktet hier mit gutem Timing.


Diese Rapid-Response-Kampagne gibt denjenigen eine Antwort, die sich schon länger gefragt haben: Was kann ich tun, um diese Frauen zu unterstützen? In Timo Reinfranks Worten: „Die Kampagne war so erfolgreich, weil so viele Leute so unglaublich empört waren über die vielen Jahre, die der Machtmissbrauch in der Musikindustrie schon läuft. Ein Machtmissbrauch, der scheinbar keine Konsequenzen hat. Die Kampagne gibt diesen Menschen die Möglichkeit, ein deutliches Zeichen dagegen zu setzen.”  Die Spende hilft Spender*innen, einem sehr menschlichen Bedürfnis nachzugehen: sich zu solidarisieren und Gerechtigkeit mitzuermöglichen.


Du fragst dich jetzt vielleicht, was man denn an Ressourcen braucht, um so eine kurzfristige Rapid-Response-Kampagne umzusetzen. „5 Leute innerhalb der Amadeu Antonio Stiftung waren 2 Wochen mit der Kampagne beschäftigt”, so Timo Reinfrank. Folgende Aufgaben sind zeitlich sehr aufwändig:

  • die Abstimmungen mit den Initiator*innen
  • eine enge Absprache mit Anwält*innen und Steuerprüfer*innen.
  • die vielen zusätzlichen Anfragen, die man als Stiftung erhält, wenn man mit so einer Kampagne in der Tagesschau erscheint
  • und: Es gilt, sich mit einer zusätzlichen neuen Hater-Community” auseinanderzusetzen, die versucht, durch Kommentare und E-Mails die Arbeit der Stiftung zu stören – und auch die Initiator*innen einzuschüchtern. 


Kampagne mit Newswert


Der immense Erfolg der Kampagne in kurzer Zeit ist auch darauf zurückzuführen, dass sie einen großen Newswert hat. Dadurch wurde die Kampagne nicht nur über Social Media verbreitet und die Kanäle der Kampagnenstarter*innen – sondern auch über Online- und Printmedien sowie das Radio wie hier bei der Frankfurter Rundschau oder bei Flux FM. Ein guter Presseverteiler kann hier helfen – oder im Fall von kleineren Vereinen für so eine Kampagne eine gut vernetzte freiberufliche Person für die Pressearbeit zu engagieren.


Prominente Initiator*innen als Schlüsselfiguren


Viele Vereine stellen sich die Frage: Wie können wir Menschen mit Reichweite motivieren, unsere Arbeit zu unterstützen? Bei dieser Kampagne sehen wir, wie gut es vor allem funktioniert, wenn es genau umgekehrt läuft. Denn es waren Creator*innen mit Haltung wie Jasmine Kuhnke und Nora Tschirner, die auf die AAS mit ihrem SHEROES Fund zugekommen sind, um mit Unterstützung der Stiftung ein Zeichen zu setzen. Solche Schlüsselfiguren sind essenziell, um dann weitere Menschen mit Reichweite anzusprechen, so Ceylan Isik, Lead Creator Relations bei betterplace.org. Letztendlich haben Jasmina Kuhnke und Nora Tschirner die Kampagne zusammen mit Carolin Kebekus, Rezo, Roger Reckless, Micha Fritz, Jany Tempel, MeTooGermany & Jannik Rienhoff gestartet. “Wenn sich Content Creator*innen in einer sozialen Angelegenheit zusammenschließen, entsteht wie hier ein echter, sichtbarer Impact,” betont Ceylan Isik


Der Kontakt zwischen der AAS und Jasmina Kuhnke bestand schon vor dieser Kampagne, aus ihrer Initiative heraus entstand der SHEROES Fund bei der Stiftung. Daran zeigt sich, wie wichtig es ist, längerfristig Kontakte mit Influencer*innen aufzubauen und zu pflegen – mit Creator*innen, die ein starkes Engagement zu den Themen der Organisation teilen. Das ist die Basis, auf der man sich dann – wenn sich Gelegenheiten und Themen ergeben – schnell zusammenfinden und zusammenarbeiten kann. Die Arbeit mit Influencer*innen und Creator*innen mit Haltung funktioniert sehr gut, wenn sie auf Augenhöhe und als gemeinsames Engagement gedacht wird.


Die Rolle von betterplace.org als Spenden- und Crowdfundingplattform


Die große Dynamik der Kampagne war laut Timo Reinfrank nur dank der Zusammenarbeit mit betterplace.org als Spenden- und Crowdfunding-Plattform möglich. Denn Kampagnen auf betterplace.org wirken transparent und glaubwürdig. Die Projektseite beschreibt in den Bedarfen sehr klar, wofür das Geld genau benötigt wird und wofür man konkret spendet. Auf der Projektseite ist transparent einsehbar, wie viel schon gespendet wurde und man sieht, wie viele Leute die Aktion bereits unterstützt haben. Das wirke besser als eine Landingpage mit Spendenformular, so Timo Reinfrank


Vertrauenserweckend ist auch, dass betterplace.org als gemeinnützige Organisation bekannt ist und keine eigenen finanziellen Interessen hat. Es ist eine neutrale Plattform, über die gerade solche Initiativen von Einzelpersonen an Glaubwürdigkeit und Transparenz gewinnen. 


#MeToo & Kritik an sexistischen Strukturen in der Musikindustrie


Schließlich sei nicht vergessen: Jahrelange feministische Öffentlichkeits- und Bewegungsarbeit zu den Themen sexualisierte Gewalt innerhalb und außerhalb der Musikindustrie haben den Boden bereitet für den immensen Erfolg dieser Kampagne.


Durch Kooperationen entsteht ein neues Projekt 


Der Fokus der Amadeu Antonio Stiftung  liegt auf der Arbeit gegen Hass und Hetze speziell in den Bereichen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Daher arbeitet die Stiftung für das aus der Kampagne erst entstandene Projekt mit dem bff, dem Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, zusammen. Denn die Betroffenen sollen sich nicht nur um die rechtlichen und finanziellen Konsequenzen keine Sorgen machen müssen, wenn sie an die Öffentlichkeit gehen – sie sollen auch die beratende und therapeutische Unterstützung bekommen, die es braucht, um diesen herausfordernden Weg zu gehen. In dieser Kombination gibt es bislang keine Unterstützung für Betroffene von sexualisierter Gewalt.


Glückwunsch, Respekt und vielen Dank an die Kampagnenstarter*innen Jasmina Kuhnke, Nora Tschirner, Carolin Kebekus, Rezo, Roger Reckless, Micha Fritz, Jany Tempel, MeTooGermany und Jannik Rienhoff sowie an Timo Reinfrank und das gesamte Team der Amadeu Antonio Stiftung. Ihr macht wirklich einen immensen Unterschied!






>>> Du hast Feedback zu diesem Artikel? Dann schreib uns gerne unter redaktion@betterplace.org.​​​​​​


>>> Diesen Artikel sollten auch deine Kolleg*innen, andere Fundraiser*innen und Engagierte in deinem Netzwerk lesen? Dann freuen wir uns, wenn du ihn in deinem Netzwerk teilst!

 

​​​​​